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4i 26 Mai 1854. Weißerih-Zeitung. Berantwortlicher Redactenr: Carl Ich ne in Dippoldiswalde. Inserat« werden mit H 8 Pf. für di« Zeile berechnet Mu. in allen Ex peditionen an genommen. Freitag Erscheint Dienstags und. Freitags. Zu beziehen durch alle Postanstal ten. Preis pro Quart. lONgr. Ein unterhaltendes Wochenblatt für den Bürger und Sandmann Der Krieg und die Verlegenheiten. Die Kriegsrüstungen Rußlands, Englands, Frank- reichs und Oesterreichs erfolgen in immer größerem Maß stabe; aber bei alledem ist die Situation noch höchst un klar, man weiß noch nicht recht, was die kriegführenden Mächte eigentlich wollen. Das russische Cäbinet behauptet, die Westmächte hätten die Abficht, Rußland zu schwächen , es in seine alten Grenzen zurückzutreiben und ihm diejenigen Länder zu entreißen, welche es im Laufe des letzten Jahrhunderts erobert hat. Hält man damit zusammen, was die in Paris erschienene, aber noch- schnell wieder unterdrückte kleine Broschüre: „Neviston der Karte von Europa" sagt, — „um den Frieden Europa's dauernd wiederherzustellen, heißt es in dieser Schrift, muß Rußland auf seine alten Grenzen zurückgeworfen werden, Schweden soll Finnland erhalten, Preußen Polen, Oesterreich die Moldau und Bessarabien", — hält man diese Gedanken mit dem Peters burger Manifest zusammen, so scheint der Kaiser Nicolaus in der Anschauung des begonnenen Krieges nicht gerade unrecht zu haben. Der Kaiser Nicolaus wird aber vor aussichtlich nicht absonderliche Neigung haben, auf eine derartige Revision der Karte Europa's einzugehen, und darum wird er die volle Wehrkraft seines gewaltigen Staa tes ausbieten, um die Leute, welche ohne seine Zustim mung „revidiren" wollten, zurückzuweisen. Nun steht so viel fest, daß wohl mit äußerster Anstrengung der „ver einigten Flotten" die Küffenstqdte Rußlands bombardirt und die russischen Kriegsschiffe vernichtet werden können. Daraus wird sich aber schlimmsten Falls das Petersbur ger Cabinet eben so wenig machen, als es sich seiner Zeit um das herrliche Moskau viel geschoren hat, als es im Brande 1812 aufging. Ein Ukas kann später leicht an ordnen, daß die eingeäscherten Städte und Festungen neu erbaut werden, und Rußland hat noch Eichen genug zum Bau neuer Kriegsschiffe. Wollten aber fremde Kriegs heere in das unwirthliche, steppen- und wälderreiche Ruß land dringen, dessen Bewohner außerordentlich in religiö ser Beziehung fanatifirt sind, so wird der Kampf eben so schwierig werden, wie 1812, wo der größte Kriegs meister unsers Jahrhunderts an der Spitze von 500,000 wohlgeübten Kämpfern über den Riemen ging; Ich glaube, wir sagen nicht zu viel, wenn wir behaupten, Rußland könne in seinem Innern nicht bezwungen werden; dagegen wird Europa im Stande sein, einen Angriffskrieg Ruß lands entschieden zurückzuwersen. Wenn aber Rußland glaubt, die Westmächte wollten sein Gebiet schwächen und seine Macht herabdrücken, so wird es alle seine Kräfte aufbictcn in einem Kampfe um seine Existenz; in glei chem Verhältnisse werden die Gegner Rußlands ihre Streit kräfte vermehren muffen, und darum wird der bevorstehende Kampf ungeheuere Opfer erfordern und eine weite Aus dehnung erlangen. Es wird also ein Kampf entbrennen, der vielleicht mehrere Jahre erfordert. Nun sind zwei Fälle denkbar: entweder Rußland wirb geschwächt, oder es bleibt Sieger. Würde Rußland geschwächt, wozu die Aussichten noch nicht eben günstig find, so könnte dann England und Frankreich ein uns eben nicht vortheilhastes Uebcrgewicht erlangen und Rußland würde alle seine Kräfte aufbieten, um die erhaltene Schlappe nach einigen Jahren auszuwetzen und das verlorene Terrain wieder zu erobern. Ginge aber Rußland aus dem Kampfe als Sieger her vor, so würde es fortan ein so unerträgliches Uebergewicht ' über Deutschland und das ganze Festland Europa's er langen, daß die gedemüthigten Staaten die erste Gelegen heit ergreifen müßten, um das Joch des fremden Ein flusses abzuschütteln. Das gäbe dann einen neuen Krieg. So ist also die „Revision der Karte von Europa," welche sich aus dem Angriffskriege,Rußlands gegen die friedliche Türkei entwickelt hat, eine gar schlimme Sache, welche ganz Europa für lange Zeit in Unruhe bringt; so wird die orientalische Frage zu einer Pandora-Büchse, welche, wenn sie einmal geöffnet ist, nicht sobald wieder geschlos sen werden wird. Diesen ernsten Ereignissen gegenüber sehen wir Dtutsch- land noch keineswegs geeinigt. Während sich Oesterreich zu einer entschiedenem Haltung gegen Rußland anschickt, hat die neueste Zeit in Berlin Ereignisse gesehen, welche die preußische Politik wieder unberechenbar gemacht haben; und die größern Mittelstaaten Deutschlands, Baiern an der Spitze, wollen eine Conferenz in Bamberg halten, um über die einzuschlagende Politik zu berathen, wobei das in großer Gefahr schwebende Königreich Griechenland je denfalls einen Gegenstand der Verhandlung bilde» wird. Eben so sind die Engländer in Verlegenheit über ihr Verhalten zu Deutschland: man würde allenfalls die zur See schutzlosen deutschen, wenn sie den Kampf gegen Rußland gar nicht mitmachen wollen, hudeln, wie man sie vor 50 Jahren gehudelt hat, aber man kann die Ame rikaner nicht mehr hudeln. Die Amerikaner werden sich nicht so leicht Schiffe und Wqaren zur See wegnehmen lassen; sie werden auf dem Grundsätze bestehen: „frei Schiff, frei Gut," d. h. die Flagge deckt die Wciare. Wenn man aber den Amerikanern nicht zu Leibe gehen kann, so muß man auch den Handel der neutralen Deut- schen gewähren lassen, weil man durch eine entgegengesetzte Behandlung zweier in gleichem Falle befindlichen Theile den gesunden Menschenverstand und die öffentliche Mei- nung nicht geradezu ins Gesicht schlagen kann. Die eng lischen Minister kauen gegenwärtig an dieser harten Nuß und haben sie bis jetzt noch nicht geknackt. Die englische Regierung ist ungehalten, daß sie mit ihren ungeheuer» Rüstungen vorerst nichts Entscheidendes