Volltext Seite (XML)
weiter übrig, als den Sonntag zu Hülfe zu nehmen." „Ist das Vorschrift, mein lieber Schulmeister?" fragte der fremde Herr. „Ci nun, ja und nein," erwiederte er lächelnd. „Amtspflicht ist'S gerade nicht, aber Gewissenspflicht, lieber Herr! Ich bin ja dazu da, um für das geistige Wohl der Kinder zu sorgen, und ich meine, da könne man nie zu viel thun, wenn man rechtschaffen vor dem Herrn wandeln will." „Ach, Sie sind ein braver Mann!" sagte der fremde Herr mit einem Anfluge von Ueberraschung und Erstaunen. „Wenn Sie erlauben, will ich hier bleiben und dem Unterrichte beiwohnen, ohne Sie zu stören. Da im Winkel seh' ich schon ein Plätzchen für mich."— Er drückte sich im Hintergründe deS Zimmers in die Ecke, und ohne weiteren Aufenthalt begann der Schulmeister nun seinen Unterricht in klarer, schlich, ter, einfacher Weise. Die Kinder waren aufmerksam, gaben a sehe deutliche Antworten , und die Stunde näherte sich schon ihrem Ende, als ein altes Müt terchen mit einem hübschen, kleinen Burschen in die Schul-Stube trat, der sehr niedergeschlagen auSkah und ganz rothe verweinte Augen hatte. „Ach, Herr Schulmeister!" sagte sie — „der Tauge nichts! Ach, der Taugenichts!" „WaS denn, Frau Bärbel?' fragte der Schul- meister. „WaS hat denn Ihr Enkel verbrochen? Komm doch ernmal her, kleiner Hans! Und Sie Frau Bär bel, setze Sie sich, Sie wird müde sein! Und Du, HanS, gesteh' einmal, waS hast Du der Großmutter für Kummer gemacht? Geschwind heraus mit der Sprache!" „Ach, der Taugenichts, der Taugenichts!" wie derholte dle alte Großmutter — „ein Vogelnest hat er ausgenommen! Hab' es ihm immer verboten! Hat auch Schläge gekriegt! Soll aber noch mehr gestraft werden, der Taugenichts! Ein Vogelnest auSzuneh- menl Die kleinen jungen Vögel unbarmherzig vom Mutter- und Vaterherzen rauben! Ach, pfui, Hans, waS für Sünde! Und noch dazu am Sonntage!" — „Ist daö wahr, HanS? Ist'S wahr?" fragte der Schulmeister mit strengem Gesicht. Ach ja, ach ja doch!" stammelte HanS schluch zend und mit Lhräncn. „Aber — aber — die Groß mutter..." „Genug, Hans! Wir wollen daS nachherunter suchen, wenn die Schule aus ist," unterbrach ihn der Lehrer. „Bald wirb's so weit sein. Stelle Dich in des daher an's Pult! So! Und Sie, Frau Bärbel, warte Sie'ö ab! Der HanS ist sonst so schlimm nicht — wenn er aber gefehlt hat, soll er auch gestraft werden! Und nun weiter!" — HanS schluchzte still — die Großmutter saß ru- hig auf der Holzbank — und der Schulmeister setzte mit ruhiger Gründlichkeit seinen Unterricht fort, bis die zwölfte Stunde verkündigte, daß er zum Schluffe eilen müsse. Er klappte sein Buch zu, und wendete sich wieder zum kleinen Verbrecher, der unter Zittern und Zagen sein Unheil zu erwarten schien. „Nun, Hans," sagte er, „nun erzähle einmal, wie es mit dem Vogelneste zugegangen ist. Aber die Wahrheit! Du weißt, daß ich nichts so sehr hasse, als die Lüge, denn die Lüge ist Sünde, und die Sünde ist der Leute Verderben, wie geschrieben steht n.. wo, Hans?" „In den Sprüchen SalomomiS, I4teS Kapitel' 34ter VerS." „Gut geantwortet, HanS! Aber nun, wie war'S mit dem Vogelneste?" „ES war so, Herr Schulmeister: Richters krankes LieSchen ist ihr Stieglitz gestorben, und da weinte sie so sehr, daß mir's leid thak, so leid, baß ich's gar nicht sagen kann, Herr Schulmeister! und da versprach ich ihr'n anderen Vogel, und dann suchte ich die Hecken durch und die Gärten, und da fand ich ein Stieglitznest mit vier Jungen, und da wartete ich, bis sie ordentlich flügge waren, und da — und da.." Der kleine HanS stockte, aber der Schulmeister ließ nicht locker: „Na, HanS," sagte er — „und da?" „Und da ging ich heute früh hin, und wollte für LieSchen einen Vogel heraus nehmen, nur einen, Herr Schulmeister, nur einen einzigen, den schönsten, weil doch LieSchen krank ist, und da, da kam gerade die Großmutter, und da schallt sie, und sagte, ich wäre ein Taugenichts, und ließ mich gar nicht zu Worten kommen, sondern nahm mich gleich hier mit her zu Ihnen, Herr Schulmeister, und nun., ach Golt, ach Gott, ich hab' eö doch gut gemeint, und nur, weil LieSchen so krank ist, da dacht' ich, eS wäre keine Sünde, ein Vögelchen zu nehmen, nur ein ein ziges, kleines... ach, vergeben Sie mir nur, Herr Schulmeister, sonst krieg' ich die ganze Woche kein freundliches Gesicht von der Großmutter!" „Schon gut, HanS," sagte der Schulmeister freundlich. „Ich sehe schon, Du sprichst die Wahr, heil, und da Deine Absicht gut war, so wollen wir'S für diesmal nicht so genau nehmen mit dem Vogel, neste. Ein krankes Kind erfreuen ist löblich! Also gehe hin, nimm aber die Großmutter mit, und lange einen Vogel aus dem Nest, aber nur einen, verstehst Du, und wenn Du ein anderes Bal ein gureS Werk thun willst, so sag'S erst mir oder der Großmutter, damit Du keine Gefahr läufst, zu irren. Nun Adieu, und grüße LieSchen von mir, ich würde sie Nachmit. tags auch einmal besuchen." . - Der kleine HanS ging strahlend vor Freude da. von; zur Großmutter aber sagte der Schulmeister leise: „Alles mit Maaß und Ziel, Frau Bärbel. ES ist wohl gut, streng sein und die Kinder unter der Ruthe halten, aber weiß Sie, Frau Bärbel, künftig erst untersuchen, und dann strafen, wcnn'S nölhig ist. Str versteht mich doch, Frau Bärbel." „Ach Göttchen, ja doch, Herr Schulmeister!" er. wiederte die Großmutter. „Der HanS ist ja sonst ein guter Junge und mein Herzblatt, aber gerade da rum soll er mir kein Taugenichts werden. Doch nun weiß ich Bescheid: erst untersuchen und dann strafen. Wcrd'S nicht vergessen! Danke für die gute Lehre, und Gott vergelt'S Ihnen, Herr Schulmeister." Damit ging sie, die übrigen Knaben waren schon voraus, und der fremde Herr, der all' diesen Aus tritten still zugesehen hatte, trat nun auS seiner Ecke vor und wollte eben das Wort an den wackeren al. len Schulmeister richten, als poch! poch! an die Thüre geklopft wurde, und wiederum fünf ober sechs Leute in die Stube traten. Es waren die alte Ursula, an der Krücke, Peter Staumann, Wilhelm Bartels, dann David Schmidt, der Waisen-Frieder, und endlich auch der Jonathan mit der Witkwe Seiler. — Alle die, denen der brave Schulmeister heute am Morgen ein Scherflein von seiner Armuth in's Haus geschickt hatte.