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35. Sonnabend, den SV August 18^0. Aettetrißische Aeitage zum sächsischen Erzähler. Zur gemeinnützigen Unterhaltung für alle Stände. (Wird jeder Sonnabends-Nummer ohne Preiserhöhung des Hauptblattes beigegeben.) Am Morgen, wenn der Mensch Len Lauf beginnt, Auf Erden wallend als ein glücklich Kind, Wenn er noch kindlich haßt, noch kindlich liebt, Noch kindlich fehlt, noch kindlich Tugend übt, Wenn leicht die Thräne quillt und leicht versiegt, Da ist ein Wunsch, der ihm am Herzen liegt, Nach dem all' seine kleinen Wünsche zielen: „O laßt mich spielen!" Wenn höher dann des Lebens Sonne steigt Und uns die Welt in hellerm Lichte zeigt, Das Auge sehnend in die Ferne eilt Und sinnend in des Herzens Tiefen weilt, Wenn wir halb willenlos und halb bewußt Das Buch durchblättern unsrer eignen Brust, So finden wir den Wunsch darin geschrieben: „O laßt mich lieben!" Und wenn dem Herzen dann sein Recht geschchn, Wir ernster in den Strom des Lebens sehn, Der wogend sich vor unsern Blicken regt, An unser stilles Ufer brandend schlägt; Und wenn wir sehn, wie Alles ringt und schafft, So stehn wir, bewußt der eignen Kraft: „Soll ich beglückt, ein Mensch mit Menschen, wandeln, So laßt mich handeln!" Doch müde wird der Pilger allgemach, Sein Fuß wird wankend und sein Arm wird schwach, Des Marktes Lärm, der auf der Kräfte Höh' Ihn einst ergötzt, thut Ohr und Herzen weh, Und wenn er in Ver Seele Tiefen schaut, Da ruft es innen mit der Sehnsucht laut: „O laßt ein stilles Plätzchen mich erwerben, Dann ruhn und sterben!" U. L. Die ungarischen Brüder. Eine Erzählung aus den Türkenkriegen von M. Titelius. Nachdruck verboten. Als ich kürzlich auf dem Rückweg von einer längeren Reise die liebliche Donaustadt Linz besuchte und von -er großen Brücke aus mir den herrlichen Strom be trachtete, wie seine klaren, grünen Wogen in maje stätischer Macht dahin rauschten, ungestört von dem Treiben und Streben der Volksmenge umher, welche gerade ein lärmendes Fest feierte; unbekümmert über haupt um die Leiden und Schicksale der einzelnen Menschen wie der Völker und Nationen, die an seinen Ufern wohnen, — da überkam mich fast eine Art Rührung bei dem Gedanken, daß einstmals Vorfahren von meiner Familie heraufgekommen sind aus fernen Landen, welche diese selbe grüne Donau in ihrem weiten Laufe durchströmt, und daß sie damals ebenso unbekümmert um das Leid der armen heimathlosen Knaben ihre stolzen Wogen weiter wälzte wie heute. Was kümmerten sie die Siege der Türken und ihre unmenschlichen Greuel gegen die Christenheit? — Die kalten grünen Wogen sind weiter geströmt; aber die armen Menschenherzen, was haben die gelitten und geblutet! Die zwei Knaben, welche ich vorhin er wähnte, gelangten, immer aufwärts dem Lauf der Donau folgend, bis nach Franken, wo die Nachkommen des einen noch heute ansässig sind. Da ihre Führungen ein gar wunderbares Bstd von Gottes Vatertreue darbieten, will ich in den folgenden Blättern es versuchen, die einzelnen Fami lienerlebnisse, wie sie in mehreren Andenken und Auf zeichnungen auf uns Nachkommen sich vererbt haben, zu einer zusammenhängenden Geschichte zu verbinden. I. Es war an einem trüben, unfreundlichen Nach mittag im Spätherbst des Jahres 1672. Der Wind wehte eisigkalt über das feuchte Moorland, das sich damals in unermäßlicher, ermüdender Einförmigkeit über die ganze Landschaft zwischen dem Inn und der Donau hinzog, als in einer der endlosen, unmalerischen Thalweitungen, welche die Donau bei geringem Ge fälle meist in großen Schlangenwindungen durchzieht und zahllose Sümpfe und Seen bildet, zwei Knaben, jeder ein kleines Bündel oder Säckchen auf dem Rücken tragend, sichtlich unsicher und wegmüde dahin wanderten. Der ältere der beiden Knaben mochte ungefähr 16 bis 17 Jahre zählen. Er war schlank und sehnig ge wachsen; der Gang, trotz der sichtbaren Ermüdung, leicht und elastisch und wie für große Anstrengungen geschaffen. Auch sein feingeschnittenes, etwas bräun liches Angesicht, die dunsten Feueraugen, welche ordent lich in die beginnende Dämmerung hinein zu leuchten schienen, um Weg und Steg zu erkennen, der prächtige, dunkle Lockenkopf — alles zeugte von seltener geistiger und körperlicher Kraft und Energie.