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Tagesgeschichte. (7) Dresden, 5. August. Zweite allgemeine sächsisch e Leserversammlung. Vorbereitende Versammlung. Erste Sitzung. Als vor etwa sieben Jahren sich zum ersten Male eine kleine Anzahl Lehrer Sachsens in diesen Tagen vereinigten, so geschah es heimlich und in Furcht vor möglicher Entdeckung und Bestrafung; alS später der pädagogische Verein Hierselbst die Berufs genoffen zu einer erweiterten Sitzung zusammenberief, so geschah es unter mannichfachen Schwierigkeiten und Mißdeutungen; in diesen Tagen dagegen sind frei und öffentlich an 750 Lehrer aus allen Gegenden Sachsen- zusammengetreten, um die Reorganisation deS gesummten öffentlichen Unterrichtswesens anzubahnen und vorzu bereiten. Das ist eine würdige Errungenschaft der Neuzeit. Diese Versammlung ist unstreitig nicht minder wichtig, al- irgend welche politische; diese haben es mit der äußern Staatsform zu thun, jene bemüht sich, Mittel und Wege ausfindig zu machen, durch welche der Vvlksgeist der neuen Zeit würdig gemacht werden kann. Wir haben den ersten drei Versammlungen beigewohnt und können uns nicht entbrechen, zu sagen, daß der Geist der Mäßigung, Besonnenheit, Billigkeit und Gründlichkeit, welcher bei den gepflogenen Verhand lungen vorherrschte, einen wohlthuenden Eindruck auf uns gemacht hat. Wir sind stolz auf unfern sächsischen Lehrerftand und haben hierbei die Ueberzeugung gewonnen, daß er — mag man auch sagen, was man will — wohl würdig ist, die selbstständige Stellung im Staate einzunehmen, welche ihm eigentlich von Gott und Rechts wegen gebührt. Obschon es sich um die wichtigsten Principfragen, um Fragen von tief einschneidender Wichtigkeit und von der größten Tragweite handelte, konnte doch die Leidenschaftlichkeit niemals einen Spielraum gewinnen. Insonderheit müssen wir hervorheben, daß die Majorität der Versammlung der oppositionellen Minorität da- Recht der freien Meinungsäußerung unangetastet ließ. Wir hielten uns für verpflichtet, diese Bemerkungen vorauszufchicken, da die gegen wärtige freie Vereinbarung der sächsischen Lehrer von verschiedenen Seiten her verdächtigt worden ist, und fügen Dem noch bei, daß wir selbst zwar weder im Allgemeinen noch im Besondern mit den bei den Debatten laut gewordenen Ansichten in allen Punkten übereinzu stimmen vermögen, dennoch aber der Ansicht sind, daß das „suum euique" unter allen Verhältnissen seine volle Geltung behalten muß.— Auf der ersten allgemeinen Lehrerversammlung zu Leipzig im April dieses Jahre- war ein Konnte mit der Ausarbeitung eine- Programm beauftragt worden, da« die daselbst aufgenommenen Hauptsätze: „Die gesammte Volkserziehung ist Staat-fache" und: „Leitung des VolkS- erziehung-wesens durch einen Erziehungsrath aus Sachverständigen, an dessen Spitze ein besonderer Minister des öffentlichen Unterrichts steht," materiell ausführen und der gegenwärtigen Versammlung bei ihren Berathungen al-Unterlage dienen sollte, nachdem eS vorher in den verschiedenen Lehrervereinen durchgesprvchen worden wäre, und hat diescS Progamm den Debatten und Beschlußnahmen auch wirklich zu Grunde gelegen. — Am Donnerstage Abend 9 Uhr fand gemäß -er allgemeinen Tagesordnung im Saale deS OdeumS eine vor bereitende Sitzung statt, in welcher mehrere geschäftliche Mittheilungen gemacht, die Geschäftsordnung festgestellt und die Wahl eine- Prä sidenten nebst seinen Stellvertretern und der übrigen Beamten vor genommen wurde. Zum Präsidenten wurde Herr Lehrer Zsch, tzsche aus Dresden unter 339 Adstimmenden mit 23t Stimmen und die Herren Direktor Bert Helt aus Dresden und Lehrer Thoma- au- Möckern bei Leipzig zu seinen Stellvertretern gewählt. Nicht unerwähnt mag bei dieser Gelegenheit bleiben, daß Herr Aschetzsche, obgleich noch ein junger Mann, dennoch die ihm gewordene Aufgabe mit ebenso viel Gewandheit al- Sachkenntniß löste. — Gestern Freitag früh 8 Uhr begann die erste Sitzung in der hie sigen Waisenhau-kirch«, welche die städtischen Behörden für diesen hochwichtigen Zweck mit der größten Bereitwilligkeit gewährt hatten, während dagegen der Herr EphoruS seine Einwilligung zu ercheilen, Anstand nehmen zu müssen glaubte, so daß erst Rekur- an da- hohe Ministerium genommen werden mußte, welche- die Bedenken de- Herrn Ephoru- zu theilen, sich nicht bewogen fand. Den Verhand lungen wohnten der Herr Kultusminister vr. v. d. Pfordten selbst mehrere Standen bei, nächstdem der Geheime Kirchen- und Schulrath Meißner, der Konsistorialrath Käuffer und mehrere Mitglieder de- Skadtraths. Unter den 730 bi- 750 anwesenden Lehrern aller Grade befanden sich auch einige katholische und eine nicht geringe Anzahl nicht sächsischer Lehrer, unter letztern der vielfach bekannte Lehrer Wander aus Hirschberg. — Nach einem feierlichen Choralgesanqe sprach der Präsident einig, ein leitende Worte, worauf der Referent Or. Köchly in einem histori schen EinleitungSvortrage die Stellung der Schule zum Staate im Alterthume und im christlich germanischen Staate bezeichnete und in großen Umrissen den Gang zeigte, welchen die allgemeineDebatte etwa zu nehmen haben würde dergestalt, daß man sich hierbei nament lich mit der Beantwortung der Frage zu beschäftigen haben würde: Welche Stellung die StaatSschule der kirchlichen und bürgerlichen Gemeinde gegenüber einzunehmen habe? Da- Programm verlangte eine Befreiung der Volksschule von ihrer gegenwärtigen Abhängigkeit von der Kirch, insoweit, al- nicht der kon fessionelle Unterricht in der Religion eine Einwirkung derselben nöthig mache, und schrieb der Schule die Bedeutung eines organischen Glie be- im Staate zu. Es ist hier nicht der Ort, auf alle Einzelnheitm der Debatte einzugehen, und begnügen wir uns deshalb, vorläufig nm ganz im Allgemeinen ein Bild davon zu entwerfen. — In eine« Punkte stimmten alle Redner, selbst diejenigen, welche gegen da- Pro gramm sprachen, überein, darin nämlich, daß das bisherige Ber- hältniß der Kirche zu der Schule nicht fortdauern könne; einen Punkt übersahen dagegen alle Redner, selbst der geistvolle Re ferent nahm nicht darauf Bedacht. In mitunter glänzenden Rede» mühte man sich mit den Begriffen Staat, Kirche, Schule ab und suchte vergeblich herauszufinden, ob die Schule mehr zur Kirche, oder zum Staate, oder zu beiden gleich sehr gehöre. Zu letzterer Ansicht schien man sich überwiegend zu neigen und au- eben dem Grunde erkannte man der Schule auch eine gewisse Selbstständigkeit und Gleichberech tigung mit beiden zu. Von einer Trennung der Schule von der Kirche in dem Sinne, in welchem man sich jene denkt, wenn man von einer Emancipation der Schule spricht, sah man ganz ad und sprach zu wiederholten Malen den Grundsatz au-, die Schule soll sich nicht selbst und ganz allein beaufsichtigen. Wa- man, wie ich erwähnte, übersehen hatte, war also der Umstand, daß die Begriffe Staat, Kirche und Schule nicht- weiter sind, al- für ein und dieselbe Sache abstrakte Bezeichnungen zum leichtern Gebrauch in der Sprache. Staat, Kirche und Schule von einander zu trenne», ist eben so unrichtig, als wenn man im Sinne der Wolssschen Psy chologie die Seele in ein Erkennmiß-, Willens- und GefühlSvermö- gen zerspalten wollte. Wir haben nicht drei, sondern eine Seele, das Eine wird in der Erfahrung niemals losgelöst von dem Andern wahr genommen. Je nachdem die eine oder die andere Thätigkeit ein und derselben Seele hervortritt, sprechen wir von einem Gefühls- oder Willens- oder Erkenntnißvermögen. Ebenso sind Kirche, Schule und Staat nur Aeußerungen ein und derselben Einheit, nämlich der Gesellschaft. Wir finden den Staat nicht hier, dort die Kirche und neben beiden die Schule abgesondert im Leben. Keine dieser Forme« ist also übergeordnet oder untergeordnet derandern, sie sind koordinirt; wohl aber kann es treffen, daß, wie in einem Menschen das Erkennen oder Wollen oder Fühlen vorherrschend ausgebildet ist, auch in einer oder der andern, nach einem bestimmten Principe geordneten Gesell schaft die Aeußerungsform der Kirche oder des Staates hervorgetreteu ist; allein Das ist eben eine Abnormität, eine Unebenheit, welche nach Ausgleichung strebt. — Diese unumstößlichen Wahrheiten liegm dem Programm zu Grunde, das Nichts von einer gänzlichen Losrei- ßung der Schule von der Kirche wissen will, diese Wahrheiten waren es auch, welche den Rednern sowohl für, als gegen da- Programm ^»orgeschwebt haben mögen, und daher mochte es kommen, daß sich die Gegner befreundeter waren, als sie selbst glaubten. Um jedoch dies« höchst anziehende und bedeutungsvolle Debatte noch etwas mehr zu charakterisiren, werden wir die Hauptgedanken einiger Redner in dem nächsten Berichte nachliefern und bemerken wir hier bloS vor läufig , daß sich die Versammlung in der Nachmittagssitzung gegen eine geringe Majorität für die Stellung der Schule zur bürgerlichen und kirchlichen Gemeinde im Sinne des Programm-, also für eine Befreiung der Schule von der Bevormundung der Kirch« erklärte. « Großenhain. Die hier am 30. Juli abgehalttne Volk»-