Volltext Seite (XML)
10. Sonnabend, den v. März. IZetteLrißische Aeitage zum sächsischen Erzähler. Zur gemeinnützigen Unterhaltung für alle Stände. (Wird jeder Sonnabends-Nummer ohne Preiserhöhung des Hauptblattes beigegeben.) 1889. Z«m OMHtviß Der Winter floh, es kam das junge Grün, ! Und wurde gelb und welk und sank hernieder, Aus Gräbern sahen Leben wir crblühn, ! Ein neuer Winter kam, begrub es wieder! — So schied ein Jahr; doch sah in ihm die Welt Manch wicht'ge Wandlung staunend sich vollziehen; Wir aber dachten Dein, Du deutscher Held, Der Du die Einheit unserm Reich verliehen. Wir dachten Dein, denn deutsche Lieb ist treu — Und wär' sie's nicht, Dich könnt' sie nicht vergessen. Es perlt der Schmerz aus jedem Äug' auf's Neu', So oft wir Dein unsterblich Thun ermessen. — So mild, so gut, so ritterlich und Werth, < Nie müde, uns zu leiten und zu rathcn, Doch führtest Du mit Gott Dein eisern Schwert, Erwuchs Dein Ruhm in Heldenhasten Thaten. ! Kaiser Milhe« I. Von Barbarossa war die Sage kund, Daß er in Bergestiefen harrt der Stunde, Da einst es jubelnd eilt von Mund zu Mund, Daß Deutschland sei geeint zu festem Bunde. Des Volkes Sehnen, das die Mär erdacht, Hast Du erfüllt durch Dein gebiet'risch „Werde!" Geliebter Schatten, halte treu die Wacht, Daß Segen ruh' auf Deiner deutschen Erde! Und bist Du uns für immer auch geraubt, Zu Gottes Größe siegreich eingegangen, So blick' herab auf das geliebte Haupt, Das jetzt erglänzt in Deiner Krone Spangen. Dein junges Abbild auf dem deutschen Thron, O segne es mit Deiner Weisheit Fülle, Dann ist Dein edler Geist uns nicht entfloh'n — Er spricht zu uns, nur aus verjüngter Hülle! H. H. Scheffsky. Die Verwaiste. A»man in zwei Bänden von Karl Hellmer. (Fortsetzung.) Es war in der zweiten Woche ihres Aufenthaltes in der Stadt, als eine empfindliche Prüfung Mariens Stolz bereitet werden sollte. Der Graf von Waldcn- berg war geschäftlich von seinem Rechtsanwalt in An spruch genommen, und nachdem die junge Frau den Nachmittag mit Büchern verbracht, beschloß sie eine Spazierfahrt, die mit einigen Besuchen ihren Abschluß finden sollte. Pauline kleidete ihre Herrin an und wagte einen Versuch, gegen den dichten schwarzen Schleier Einsprache zu erheben, doch erwies sich der selbe wie gewöhnlich rcsultatlos. Nach einer kurzen Spazierfahrt stattete Marie einer alten Gräfin einen Besuch ab, welche weitschichtig mit ihrem Gatten verwandt und die dem Zauber der Schön heit der jungen Frau beim ersten Sehen erlegen war. Mehrere Damen waren zugegen und nach den obligaten Vorstellungen beeilte man sich, der jungen Gräfin Glück zu wünschen. „Nun möchte ich doch eine Gunst von Ihnen er bitten, mein liebes Kind," sprach die Dame des Hauses nach einer Weile lächelnd. „Können sie sich nicht ent schließen, den dichten Schleier, durch welchen Sie uns den Anblick ihres holden Antlitzes verwehren, zurück zuschlagen?' Marie lächelte ein wenig und war eben im Begriff, dem Wunsche der liebenswürdigen alten Dame nachzu kommen, als der Bediente mit lauter Stimme den Be such der Frau und des Fräulein von Linhart ankündigte Marie fühlte, wie ein Nebel sich vor ihre Augen legte; sie sah das schöne, kalte, grausame Mädchen wieder, welches Worte gesprochen, die sie einst in tiefster Seele verwundet hatten. Mit einer leichten Neigung des Hauptes nahm sie die Vorstellung entgegen, flüsterte dann einige kaum verständliche Abschiedsworte und verließ eilig das Zimmer, um in dem ihrer harrenden Wagen sich erst dem Sturm der Empfindungen hinzugeben, welche über sie herein gebrochen waren. „Es thut mir leid, daß Sie die Gräfin Waldenberg nickt gesehen," sprach inzwischen die Dame des Hauses zu Virginien und zu deren Mutter. „Sie ist sehr groß," meinte das junge Mädchen in absprechendem Ton, „fast zu groß für eine Frau." „Aber sie hat das Antlitz eines Engels." „Wohl eines Engels mit rothen Haaren," meinte Virginie boshaft, denn sie wußte nicht, wie es kam, daß ihr gerade in diesem Moment die Erinnerung an ein hohes, schlankes Mädchen mit goldblonden Locken, denen sie mit Vorliebe die Bezeichnung „roth" beilegte, vor die Seele trat. Nach einem verwunderten Blick auf Virginie, die mit so völlig ungerechtfertigter Bitterkeit sprach, lenkte die Dame des Hauses das Gespräch in andere Bahnen.