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Die arme Kleine. Skizze von Klotilde igentlich hieß sic triefe, aber Vater und Muller nannten sie npr ihren Sonnenstrahl. Denn wenn sie das kecke Stumpfnäschen zur Türe hineinsteckte, dann schien es, als ob mit dem Glanz der lachenden blauen Augen, die zu dem kleinen Persönchen gehörten, auch der ganze lachende Friihlingshimmel mit in das Zimmer flutete. „Da bin ich!" sagte die Liese selbstbewußt und siegeSficher, wie nur ein Sonnenstrahl sein kann, der weiß, daß er überall willkommen ist. Und dann hüpfte der Sonnenstrahl auf den Schoß der blassen jungen Frau, schmiegte sich ihr zärtlich an Hals und Wangen, und sein goldenes Schimmern zau berte leuchtende Rosen auf das zarte, durchsichtige Ge sicht, so wie die Blume, die schon den Keim des Wel kens in sich trägt, noch leuchtet und duftet, wenn die Sonne sie küßt. Aber mit den Sonnenstrahlen ist es wie mit dem Glück: Husch, husch, und vorüber! Eines Abends lehnte Papa den müden Kopf schwer in das blonde Lockengewühl seines Mädels und sagte traurig: „Mußt still sein, klein« Liese, mäuschenstill, Mutti ist krank." Und wie dann di« Liese auf den Zehenspitzen zu Mutti ins Zimmer schlich, war die Lampe verhängt, so daß es ganz dunkel war, — zum Fürchten dunkel. Und neben dem Bett saß eine fremde Frau, mit einer großen weißen Haube auf dem Kopf. „Schwester Anna," flüsterte die Mama. Das klang so leise, als wenn man was ins Ohr sagen will. Nicht schön war die Schwester Anna! Und wenn die Liese einmal krank war, sollte nicht die Schwester Anna neben ihrem Bettchen sitzen, sondern die Mama, ihr« liebe Mama . .. „Nun, willst du deiner Mama nicht gute Nacht sagen?" fragte die Schwester. Aber kaum, daß di« Lies« den Mund auftat, um mit ihrem gellenden Kinderstimmchen zu erzählen, wie sie draußen im Garten mit ihrer Freundin, der Trude, Schmetterlinge gefangen, und wie ihr Ball so hoch ge flogen sei, — so hoch! fast in den Himmel hinein, wo die Engel wohnen — da sagte die Schwester schon wieder: „Pst, nicht so laut!" Und ein paar Tage später, da war auch aus Lieses lieber Mama «in Engel geworden. Aber so kleine Mädels wollen ihre Mamas lieber bei sich auf der Erde behalten, weil die Engel aus Erden seltener und deshalb notwendiger find als im Himmel. Die Liese warf sich auf den Boden nieder, strampelte mit Armen und Beinen und schrie immer während: „Nein, nein! Es ist nicht wahr! Sie soll nicht! Sie soll hier bleiben, damit ich sie sehen kann und ihr meinen Laubfrosch zeigen, den mir die Trude geschenkt hat!" „Arme Kleine!" seufzte Tante Elise, die jetzt immer zu Besuch kam, und zog ihr Taschentuch hervor und putzte sich di« Nase so laut, daß Liese zu schreien auf hörte und dachte: „gleich wird die Schwester wieder „pst" rufen." Aber die Schwester nahm sie bloß in ihre Arme und erzählte ihr, wie die liebe Mama jetzt vom Himmel auf ihr kleines Mädel herunterschaue. Deshalb müße die Liefe auch immer hübsch brav und folgsam sein. „Ich werde schon gut aufpassen, ob ich meine Mama nicht auch in den Wolken sehen kann," dachte die Kleine. „Vom Zimmer geht's nicht, aber wenn ich spazieren gehe." Und als sie dann am andern Morgen an der Hand des Vaters in ihrem schwarzen Kleidchen hinter einem Wagen hertrippelte, auf dem lauter wundervolle Brettauer (Berlins. Blumen lagen, Hütte sie gar zu gerne gewußt, ob die Mama denn auch den Kranz sehen konnte, den mit der weißen Schleife, auf der geschrieben stand: „Der lieben Mama von ihrer Liese." Ja, wenn sie das nur gewußt hätte! Sie starrte zum Himmel empor. Guck, dort die Wolke, die sah gerade so aus wie ihre Mama, wenn sie den hellblauen Schlafrock anhatte. Ob nicht am Ende hinter der Wolke versteckt ? Liese reckte den Hals, bis er ihr wehe tat, um bester sehen zu können. Sollte sie vielleicht hinauf nicken . . . ? „Aber Liese!" sagte erschrocken der Papa und faßte sie ganz fest beim Arm, denn sie war über einen Stein gestolpert und es hätte nicht viel gefehlt, so wäre sie der Länge nach hingefallen. Und jetzt hörte sie, wie neben ihr di« Leute flüsterten: „Ach Gott, die arme Kleine!" „Wen meinen sie nur damit?" dachte die Liese. „Ich schreie und weine doch gar nicht mehr." Sie zupfte den Bater am Rock und wollte ihn fragen. Aber er merkte es nicht. Zu Hause durfte sie wie ein großes Mädchen neben dem Papa auf dem Sofa sitzen, und Mademoiselle, die sonst immer zankte, wenn sie mit den Quasten an der Tischdecke spielte, sprach überhaupt kein Sterbenswört chen, und beim Schlafengehen steckte sie ihr noch ein Schokoladenplätzchen in den Mund und streichelte sie und sagt«: „kauvre ivignonve." Aber komisch! Ein paar Tage später, als die Liese mit ihrer Freundin, der Trude, wieder im Garten spielte und den Ball in die Höhe warf und dabei zählte: 16, 17, 23, — da schwebte dort oben über ihr wieder so eine Wolke, die gerade so aussah wie „Du, Trude," sagte die Liese plötzlich, „intmer haben sie „arm« Kleine" gesagt. — Dumm, nicht?" Die Trude sah die Liese ein wenig von der Seit« an: „Meine Mama sagt auch, wenn man keine Mama hat, ist man ein armes Kind." Wie versteinert blieb die Liese mit offenem Munde stehen. Was, das sagte die Mama von der Trude?! Und dann erbebte die kleine Gestalt vor Zorn und verhaltenem Weinen. Mit einem wütenden Ruck warf sie den Ball weit weg, ins Gras hinein und schrie: „Du dummes Ding, du! Mein« Mama ist viel schöner und viel froher als dein« Mama, weil sie ein Engel ist! Und ich bin gar nicht traurig, und und ich spiel' überhaupt nicht mehr mit dir!" Sie rannte ins Haus hinauf und war um keinen Preis dazu zu bewegen, wieder in den Garten zu gehen. Mademoiselle wußte sich keinen Rat mit dem bösen Kind, und auch Papa schüttelte unzufrieden den Kopf. „Liese, Liese, da wird sich die liebe Mama nicht freuen, wenn sie vom Himmel herunterschaut und sieht, daß ihr kleines Mädel ungezogen ist und der Made moiselle nicht folgt." Di« Kleine schwieg und lehnte das Köpfchen an die Brust des Vaters. Nach einer Weile begann sie leise und stockend: „Du, Papa, Lis Weihnachten ist — wünsch' ich mir etwas." „„So? Was denn?" Sie schluckte «in paarmal, wie wenn sie Kartoffel klöße essen sollte, die so schwer hinunter rutschten. Dann sagte sie mit raschem Anlauf: „Ich wünsch' mir eine neue Mama." Der Vater blickte entsetzt auf sein kleines Mädel: „Aber Liese ! Und die liebe Mama im Himmel?" Da perlten dicke, schwere Tropfen aus den Augen des Kindes. Es konnte vor Schluchzen kaum stammeln: „Sie — — sie — sollen aber doch — nicht immer — sagen „die arme Kleine" "