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43 Sonnabend, den 27. Oktober. 1883. Aettetrrstische Meilage zum sächsischen Erzähler. Zur gemeinnützigen Unterhaltung für alle Stände. Anter -en Sternen. Roman von Paul Böttcher. (Schluß.) Helene stand am Fenster und blickte träumerisch dem davoneilenden Sohne nach. Sie hatte ihm nichts in den Weg legen wollen und schweigend seinen Schritt gebilligt; knüpfte etwa auch sie einige Hoffnungen an dem Unternehmen ihres Sohnes? Nein! Sie wünschte sich im Gegen theil weit fort von dem Ort und von der Nähe besten, der einst das Glück ihrer Jugenv gewesen. Sie fürchtete eine Begegnung mit dem, dessen gebrochene Gestalt sie an ihre Jugendsünde, an den Treubruch, den sie sich gegen ihn schuldig gemacht, erinnern mußte, und der so verhängnißvoll für sie, — noch mehr aber für ihn — geworden- Sie fürchtete seinen Vorwurf hören zu müssen, der darin gipfelte, daß auch sie ihn des zur Last gelegten Vergehens für fähig erachtet hatte. Mit all diesen Gedanken und Erinnerungen beschäftigt, gewahrte Helene nicht den Mann, der in der Richtung des Bahnhöfe« her die Straße herauf schritt und der sich durch seinen schwankenden, offenbar Schwäche bedeutenden Gang, wie durch sein lebhafte« Mienen- und Gestenspiel von allen anderen Passanten besonder« abzeichnete. Der nach der Beurtheilung seines Aeußern den anscheinend besseren Ständen angehörende Mann mußte entweder aus einem kleinen Ort hierher gekommen, oder aber seit vielen Jahren nicht mehr hier gewesen sein, denn jede» HauS, jedes Schaufenster schien sein Interesse wach zu rufen. Oft auch blieb er hier und dort sinnend stehen, um über dieses und jenes sein Erstaunen auszudrücken oder sich über die hervorgerufeoen Veränderungen und Neuerungen zu verwundern. Der Mann näherte sich auf der gegenüberliegenden Passage immer mehr dem Faber'schen Hause. Aber Helene gewahrte ihn nicht. Sie blickte gedankenvoll auf die nun bald am Ziel ihres TageSlaufS angelangte Sonne, deren magischer Glanz sich freundlich an den Kirchthürmcn, an den Zinnen und Dächern widerspiegelte. Wie ein Scheidegruß nickten die letzten Sonnenstrahlen io Helenens Fenster. „Könnt ich mit Euch entfliehen in jene« Reich, wo alle Klagen verstummen/ hören wir sie seufzend lispeln; „dürft ich mit Euch mich versenken in die Tiefe des Meeres, wo kühlende Wellen die heißen Schläfen umspülen." Und gerade so, wie Helene sich im Anblick der finkenden Sonne vertiefte, ebenso unausgesetzt beobachtete sie jetzt der gerade ihrem Hause gegen überstehende Mann. „Sie muß eS sein," murmelte er, .e» find dieselben Züge, e» ist ohne Zweifel da« Gesicht Helenens. Wenn ich nun in da« Hau- giuge und unter irgend welchem Vorwand wich nach dem Namen erkundigte? ES wäre doch interessant zu wissen, ob sie in der That hier weilt und eS wäre außerdem höchst sonderbar, daß sie gerade die erste ist, der ich beim Betreten dieses Bodens begegne. Und gleich darauf stand er vor dem Hause; er hatte nicht erst nothweudig, in dasselbe hineinzugehen, der an der HauSthür stehende Name sagte ihm, daß er sich nicht getäuscht hatte. Der geneigte Leser wird bereits errathen haben, wer der Fremdling ist. Kein Anderer, als der seiner Freiheit wiedergegebene Alfred Faber. Er war soeben erst mit der Bahn gekommen und hatte den Weg zu seinem Kinde durch die Straßen Wiens, der einstigen Stätte seines Ruhms, zu Fuß machen wollen und nun mußte er auf diesem Wege derjenigen begegnen, um derentwillen er so schwer gelitten hatte. Unschlüssig stand er jetzt vor ihrem Hause. Er wußte nicht, ob er erst zu seinem Kinde oder zu ihr hinaufgehen sollte. .Was soll ich jetzt bei der Frau, die mich vielleicht stets für den Mörder ihres Gatten gehalten und als solchen wenn auch nicht vergessen, so doch den letzten Rest von Achtung für mich aus ihrem Herzen gebannt hat? soll ich den Roman wieder erneuern, der mit meiner Berurtheil- ung einen so schrecklichen Abschluß gefunden? Kann ihr meine Nähe überhaupt angenehm sein, nachdem sie sich daran gewöhnt hat, mich zu verlachten?' „Verachten?" fuhr er in seinem Selbstgespräch fort, „wer gab ihr das Recht hierzu, mußte sic mich, selbst wenn ich schuldig wäre, nicht bemitleiden? Wer war von uns beiden der eigentliche Urheber de« Geschehenen? Trägt sie nicht selbst die Schuld an der Leidcnskette, die mir und auch ihr geschmiedet wurde? Und nun noch die Verachtung, vielleicht auch jetzt noch, wo sich meine Unschuld herauSgestellt Hal? Alfred hatte sich in seinem Selbstgespräch in eine förmliche Bitterkeit hineingeredet. „Ha, sie soll cs wissen und lernen, daß ich, der ich lebend begraben war, diese Verachtung nicht verdiene! Sie soll erkennen, daß ich meine freudlose Lebensschule ihretwegen durchkosten mußte!" und theil« in Zerstreuung, theil« im Gefühle des ausbrechenden Aergers hatte er die Hand an den Klingelzug gelegt. Der scharfe Ton der Hausglocke brachte ihn erst wieder zum klaren Bewußtsein dessen, wa« er gethau. Jetzt war die Entscheidung gefallen,^ schon im nächsten Augenblick mußte er ihr gegrnüberstehen,