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Die Sängerin. Erzählung von Heinrich Köhler. k. A-itletzun,. ^rar das wirklich der Heißgeliebte, der sie mit gleichgülti- gen Blicken betrachtet hatte? sragte Mary sich. Sie konnte zuerst über diese grausame Enttäuschung nicht hinweg- ko,nmen. Nach und nach erst wurde sie etwas ruhiger; denn sie sagte sich, daß es ja nur ihre Verkleidung auf dem Theater war, weswegen Edward sie nicht wiedererkanntc. Und sie sah ein, daß sie sich zu dem, was sie im ersten Augenblick in Verzweiflung ver setzt hatte, nur Glück wünschen könne; denn ihre Lage wäre sonst unhaltbar gewesen. Aber wenn er diese Gleichgül tigkeit ihr gegenüber bewahrte? Sie empfand jetzt einen förmlichen Haß vor dieser doppelten Persönlichkeit. Die Wahrheit eingestehen, hieß, die Achtung des Geliebten einbüßen, und schweigen, vielleicht seine Liebe zu gewinnen. Sie wollte zuerst zu erforschen suchen, ob der Herzog die Vorurteile, die er im Auslande abgestreift zu haben schien, wieder in den Salons ausgenommen habe. Aber das war im Grunde neben sächlich; es kam vielmehr darauf an, ihm als Lady Walford zu gefallen und seine Liebe zu gewinnen. Sie mußte also gegen ihre Doppelgängerin kämpfen; denn um sie zu lieben, mußte M die Regina bella vergessen. Aber würde er ohne den Reiz der Illusion, wie der Nimbus auf der Bühne ihn ihr verliehen hatte, an ihr Gefallen finden? Wenn es nicht geschah, so galt seine Leidenschaft nicht der Frau, sondern der Künstlerin, und eine Künstlerin konnte sie in ihrer Lebenslage nicht sein. Und die Künst lerin wieder konnte und beabsichtigte er nach den Vorurteilen der Gesellschaft und seinen eigenen nicht zu seiner Frau zu machen. Davon glaubte sie wenig stens überzeugt sein zu dürfen. Ein schweres Dilemma, aus dem es keinen anderen Ausweg gab, als daß sein Herz sich schließlich der wirklichen Person, also Lady Walford, zu- waydte. Diese besaß ja freilich auch große Vorzüge: ihre zarte Schönheit, die Liebenswürdigkeit ihres Charakters und die Lebhaftigkeit des Geistes; aber da sie zu wenig eitel war, um großes Gewicht darauf zu legen, fühlte Mary suh nicht sehr hosWungssreudig gestimmt und ihrer Doppelgängerin nicht ebenbürtig. — Trotzdem hatte sie am nächsten Morgen beim Erwachen die unruhigen und quälenden Sorgen vom vorigen Abend unter dem Gedanken ver gessen: Er ist hier — ich werde ihn Wiedersehen! Nachdem Mary ihre schönen, blonden Haare kunstvoll geordnet und sorgfältig Toilette gemacht hatte, begab sie sich zu der Herzogin. Es schien ihr, als ob diese noch zärtlicher als sonst zu ihr war. Vielleicht hatte sie ihrem Sohne gegen» über von der jungen Verwandten ge sprochen. Als die beiden Damen ins Frühstuckszimmer hinabgingen, stand der junge Herzog bereits unten am Fuße der Treppe. Er begrüßte Mary höflich. Innerlich sehr bewegt, legte sie ent schlossen ihre kleine Hand in die ihr dar gebotene; aber erst, als sie sich am Früh- stückstische gegenübersaßen, wagte sie es, ihn verstohlen zu betrachten. Trotz aller guten Vorsätze zog ihr Herz sich wie am Abend vorher schmerz lich zusammen, als sie seine gleichgültige Miene bemerkte, die in zu schroffem Gegensatz zu den leidenschaftlichen Blicken stand, die noch deutlich kn ihrer Erinne rung lebten. Er sprach nur wenig und schien überhaupt nicht viel Interesse an dem, was um ihn vorging, zu nehmen. Mit wenigen Worten antwortete er «ur höflich auf die Fragen, die an ihn ge stellt wurden. Mary lauschte dem Ton seiner Stimme mit großer Bewegung und hatte für nicht» anderes Ein». Charles Sealsfield (zum 50. Todestage). Er hieß mit seinem eigentlichen Namen Karl Anton Postl und wurde am 3. März 1793 zu Poppitz bei Znaim in Mähren geboren, entfloh 1822 nach Amerika, wo er den Namen Sealsfield annahm Er schrieb englische und deutsche Romane, war Schriftleiter und Berichterstatter großer Zeitungen, siedelte 1832 nach der Schweiz über und starb am 26. Mai 1861 bei Solothurn. Seine Schriften fanden vielen Anklang Erst in seinem Testamente enthüllte er das Leheimni, seine, Leden». Nummer 2l. Jahrgang 1914,