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Es dauerte auch nicht einen Monat, da wurde bekannt, daß die Witwe das Geschäft verkauft hatte. Sie behielt die Wohnung in dem Hause. Die Leute blieben, in ihren Stel lungen, nur kam vom Hauptgeschäft ein Fremder, der den Zweigbetrieb leitete. Der neue Inhaber empfahl.sich in der Zeitung der Kundschaft und bat, daß die Weber ihm alle treu bleiben möchten wie ihrem früheren Arbeitgeber. Sie hatten wohl auch alle die Absicht. Leider aber wurde es ihnen schwer gemacht, ihr treu zu bleiben. Der Fabrikant ge hörte zu den berüchtigten Unternehmern, die nach dem ein fachen Rezept reich werden wollen: je niedriger der Lohn, desto billiger die Ware, um so größer unser Umsatz und un ser Gewinn! Kopfschüttelnd gingen die Leute davon, wenn sie abgeliefert hatten: es war ihnen ohne rechte Begründung vom Lohn abgezogen worden. Beim Mustern der Weben hatte der Fremde immer wieder einmal ein Gesicht gemacht, als sei er auf Schluderstellen gestoßen. Der Mann hatte na-" türlich keine Ahnung, wen er vor sich hatte, und beleidigte so gerade die besten Arbeiter. Er bemühte sich auch nicht, die Leute kennenzulernen. Was gingen die ihn an? Er vertrat hier seinen Chef, nicht aber die Weber. Als Traugott Matthes seine drei Stück reine Leinewand oorlegte, sagte der Mann: na ja, das vorhandene Flachsgarn müsse natürlich noch verwebt werden, aber neues werde nicht nachbezogen und „Primaware" — das Wort sprach er mit spöttischem Lächeln — nicht weiter hergestellt; mit solchen Faxen könne er sich nicht einlassen. Matthes wollte das gediegene, reine Leinen verteidigen, aber es wurde ihm das Wort abgeschnit- ten: „Na ja, freilich, von Ihrem Standpunkte aus. Aber bei uns heißt's: die Zeitwahrnehmen, das Gangbare liefern! Nicht am Gestern und Vorgestern kleben! — Also, das nächste oder übernächste Mal bekommen Sie andere, neue Sachen." „Su! — Ahal", machte Matthes. Er dachte, das will ich mir überlegen, ob ich mir von euch die neuen Sachen geben lasse! Ihr gefallt mir nicht! Auf einmal stand der alte Traum vor seiner Seele. Er wies ihn nicht zurück. Als dann Luise noch erzählte, daß Frau Maschek mit dem neuen Inhaber Auseinandersetzungen habe, weil sie übertölpelt worden sei, meinte Traugott Matthes: „Mutter, mit sichen Leuten wulln mir nirscht zu tun hoan! Mir fan gen fir uns oan! Heute is doas mei fester Entschluß!" Die Hanne widersprach ihm nicht. Es sei so manchem andern geglückt, warum sollten sie schlecht fahren? Sie könn ten es versuchen, und schlüge die Sache fehl, so bekämen sie dann immer wieder Arbeit. Ein einziges Bedenken stieg in ihr auf: reichte ihr erspartes Geld aus? Darüber hatte Traugott angestrengt nachgedacht, „'s senn reichlich hundert Toaler, die mir uff dr Koasse hoan. Die muß ich ganz eisetzen. Aber breng ich die Leimd an Moan, do kimmt doas Geld firn Goarneikof wieder ei. Ich warde ni uff die Märchte woarten kinn, ich muß mich mit dan irschten Sticken sufurt uff de Hausierche machen. — Aber, Mutter", sagte er lachend und schlug ihr auf die Schulter, „mich gelist's urndtlich dernoch! Poaß ock uff, wie'ch die Derfer und Städte oabkloappern ward! 's Losen hoach Gutt sei Dank ni verlarnt! Und dr Buckel wird schunn o noa woas aushalen! Finfundvierzig, doas is groade 's richtige Alter, meenste ni, Hoanne?" Ihr wurden die Augen naß. Sie freute sich über ihn, daß er Mut und Unternehmungslust zeigte, und sie fühlte, daß in dieser Stunde ihr Geschick eine Wendung erhielt, die auch für di« Zukunft der Kinder entscheidend sein mußte. Traugott Matthes hatte seine letzte Lohnarbeit abge liefert. Nun begab er sich aber nicht auf den Heimweg, sondern fuhr mit dem leeren Schubkarren weiter, noch um drei Dör fer nach Neustadt zu. Er wollte gutes Flachsgarn einkaufen und wußte dort ein Geschäft, zu dem er Vertrauen hatte. Rüstig schritt er aus. Da er die Hosen in die Stiefel schäfte gesteckt hatte, sah er noch etwas länger und hagerer aus. Aber er hielt sich wie einer, der Mark in den Knochen, Forsche in den Gliedern und das Verlangen nach kraftvollem Tun in sich hat. Unterm breiten Mützenschirm hervor leuch teten seine hellblauen Augen. Er hatte wohl recht: mit fünf- undoierzig Jahren befand er sich auf der Höhe des Lebens. Nie hatte er sich so gesund und stark und froh gefühlt. Das machte wohl auch, daß er endlich seiner alten Sehnsucht ge folgt war, sich kurz entschlossen hatte, frei auf den eigenen beiden Füßen zu stehen. Vielleicht auch, daß er nun einem Triebs folgen konnte, der in seinen Vorfahren mächtig gewe sen war und in ihm lange geschlummert hatte: dem Drang zu wandern. Ostlandfahrer, Exulanten — wie sollten sie auf einmal in vier enge Wände gesperrt glücklich sein? Die Herrnhuter wurden Weltfahrer als Kaufleute und Glaubens boten! Soviel wurde Traugott Matthes bewußt: er freute sich, im Lande herumzukommen! Er wollte gehen, so weit ihn seine Füße trugen. Er hatte an den letzten Abenden noch mancherlei zu re geln gehabt. Seit vielen Jahren hatte er nicht mehr selber geschert. Der Scherrahmen war noch im Hause. Erbrachte alles ins Geschick. Ein paar Kinder, darunter das älteste Mädchen her Handtüchel-Heinrichen, bestellte er zu Treibern, Sie würden morgen sogleich mit ihrer Arbeit beginnen müs sen, damit er die Ketten scheren konnte. Christoph und zwei andere Knaben sollten das Einschußgarn spulen. Dann sollte eifrig gewirkt werden. Die Hanne, die Heinrichen und die ersten Tage er selbst wollten am Stuhle mächtig ins Zeug gehen. Ihn sollte dann, wenn er unterwegs war, die Berndten vertreten. Später würde Christoph diesen Platz einnehmen. Er hatte das dem Jungen noch nicht gesagt. Diese Auseinandersetzung kam noch zurecht. Sie mußte kom men, und der Vater mußte dabei fest bleiben; denn nun gab' es keine Wahl mehr für den Sohn. Es müßte denn alles schief ausgehen. Matthes erfragte das Haus des Garnhändlers Hermann Preibisch. Es war ein altes, breites, behäbiges Haus mit schö nem granitenen Türstock und eisernem Stabgitter vor den Fenstern der einen Hälfte. Zwei Planwagen hielten davor. Der eine trug die Aufschrift „Abraham Dürninger, Herrn hut". Diese Handelsbeziehung nahm Matthes für ein gutes Zeichen; er wollte an das richtige Geschäft herantreten. Er mußte eine gute Weile warten. Das machte ihm nichts aus. Da konnte er die Leute beobachten. Es ging in diesem Hause alles sehr ruhig zu. Auch die Gehilfen redeten wenig und nicht laut. Als Preibisch, ein beleibter Sechziger, den letzten Käufer abgefertigt hatte, trat er an Matthes heran und fragte nach seinem Begehr. Matthes erzählt«, daß er gediegenes Leinen Herstellen lassen wolle und dafür handge webtes Garn brauche; er wolle sich mit bestem Leinen ein führen. Hm! Das klinge einfach und überzeugend; mit bester Ware führt man sich am besten ein. Aber es sei nicht mehr so einfach, gutes Handgarn zu beschaffen! In Sachsen werde nur noch wenig Flachs gebaut, fast nur noch für den eigenen Gebrauch. Auch Schlesien und Böhmen lieferten nicht genug. Besonders schwer halte es, Handgespinste aufzukaufen. Im merhin die kleine Menge, die Matthes benötige, könne ihm abgegeben werden. Damit führte Preibisch den neuen Kunden ins Lager und zeigte ihm Garne. Die besten bezog er aus der Sebnitzer Gegend. „Dort gedeiht an den Berghöhen ein Flachs, der's mit dem auserlesensten fremdländischen aufnehmen kann! Fein, lang und dicht! Und dort verstehen sich die Leute auch noch aufs Spinnen und aufs Bleichen! — Hier, das seht mal an!" Er zupfte einen Faden auf und reichte Matthes den Gucker dazu. Der war recht befriedigt von dem Gesehenen, und er schloß den Kauf ab. Er wollte wöchentlich kommen und die Menge abholen, die er mit dem Schubkarren fortbringen konnte. Aber warum diese Schinderei, die zudem noch einen gro ßen Zeitverlust bedeutete? sagte Preibisch. Er schicke ja sein Geschirr ebensooft nach Löbau, und da möge der Kutscher den Posten für Matthes mitnehmen. „Nu doas wär ja goar raicht!" sagte Matthes und be dankte sich warm für die Gefälligkeit. Er ließ sich den ersten Posten abwiegen und aufladen — denn heute mußte er un bedingt Garn Heimbringen, damit ihm kein Tag verloren ging —, zog den ledernen Geldbeutel und bezahlte. Preibisch wünschte ihm Glück zum Unternehmen und' meinte, es solle ihn freuen, wenn er für den neuen Kunden sich um neue Bezugsquellen umtun müsse! Darauf schob Matthes seine Last auf die Straße, über manchen beschwerlichen Berg, durch mehrere Dörfer, und kam abends müde, aber voller Hoffnung heim. Früh beizeiten stand er mit Hanne auf. Sie zählten Garn ab in Strähnen und Stücken, teilten es ein. Dann brachten sie es zu den Treibern und Spulern. (Fortsetzung folgt.)