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35. Sonnabend, den 29. August. 1874. AeLIetrißische Aeikage zuin stichlWm Lizähsei. Zur gemeinnütziKen Unterhaltung für alle Stände. Der Kaper. Novelle von Rudolf Müldener. (Fortsetzung.) Van Borbeck hatte dem Briten und seiner Tochter ein Zimmer neben der Capitänskajüte angewiesen. Dasselbe war nicht nur hübsch, sondern selbst luxuriös eingerichtet; auch befanden sich, außer den mit rothem Plüsch übergezogcnen Divans, die an den Wänden hinliefen, noch zwei mit allem Erforderlichen ver sehene Kojen darin. Allein das Zimmer hatte keinen anderen Aus- und Eingang, als durch die Capitäns kajüte hindurch, was namentlich Glanville nicht ohne peinliche Besorgniß bemerkte. Der Schiffschirurg kam und legte, da glücklicher weise eine Abnahme des zerschossenen Arms nicht erforderlich war, dem Briten einen Verband an, vor Allem ihm Ruhe empfehlend. — Nun ist es aber entschieden leichter für den Arzt, seinem Kranken Ruhe zu verordnen, als ihm dieselbe wirklich zu verschaffen. Obgleich er desselben so sehr bedurfte, so kam doch kein Schlummer in die Augen des Greises. Die Unruhe über sein und seiner Tochter Geschick hielt ihn wach; ohnedies durch den Blut verlust geschwächt und mithin nervös erregt, zuckte er bei jedem Geräusch fast fieberhaft zusammen. Der Grundzng in Glanville's Character war eine Schrankenlose, unaussprechliche Liebe zu seinem Kinde, eine Liebe, die an Anbetung grenzte. Glan ville lebte nur in seiner Tochter: Mary war sein Stern, sein Idol, welches er mehr als sich selbst liebte. Nun war er mit dieser seiner Tochter ge fangen auf einem Kaper, der Willkür des Capitäns desselben preisgegeben, schutzlos in der Gewalt eines Mannes, der zwar formell dem Kriegsgesetze unter worfen war, in Wirklichkeit aber schwerlich ein anderes Gesetz anerkannte, als das seines Willens. Mary war schön, man sah sich zu diesem Ge ständnisse gezwungen, selbst wenn man sie nicht mit dem Auge des Vaters betrachtete. Und wenn nun diese Schönheit die Leidenschaft oder die Begierden des Capitäns erregte? Der bloße Gedanke daran lies Glanville's Blut zu Eis erstarren! Allein wenn nun die Möglichkeit zur Wirklichkeit wurde, welchen Schutz konnte er seinem Kinde gewähren? Wie sollte er es anfangen, seine Tochter auf die Gefahr vorzubereiten, welche ihr vielleicht drohte? So scheuchte die Sorge den Schlummer von den Kissen des Greises. Miß Mary hatte sich, um ihren Vater alle die kleinen Dienste erweisen zu können, deren ein Kranker bedarf, bestimmt geweigert, das Bett zu suchen. Unter anderen Verhältnissen würde Glanville dies Opfer nicht angenommen haben, heute gab er es zu. Er wollte eben sein Kind nicht einen Augenblick aus den Augen verlieren, denn nur so glaubte er sie in Sicherheit. Miß Mary erneuerte die kalten Umschläge, be reitete die kühlende Limonade, welche der Chirurg verordnet und war unermüdlich, ihrem Vater alle die kleinen Dienste zu leisten, deren nur eine weib liche Hand fähig ist. Endlich nahm sie Platz an seinem Bette, lehnte ihr Haupt auf seine Kissen, ihr Arm sank matt am Körper herab und bald zeigten ihre ruhigen, gleichmäßigen Athemzüge, daß die Natur stärker gewesen, als ihr Wille, daß sie sitzend entschlummert. Nur in das Auge des Greises kam kein Schlaf, mit ängstlichem Auge bewachte er jede Bewegung seines Kindes. Nach Mitternacht kam van Borbeck in seine Kajüte. Beim Tritt seines Fußes fuhr der Greis zusammen, und nur als das Geräusch im Neben zimmer ihn gelehrt, daß der Capitän gleichfalls das Bett gesucht, wagte er es, die Augen zu schließen, und sofort machte die Ermüdung ihr Recht geltend. Allein der Schlummer, der sich endlich auf seine Augenlider hcrabsenkte, war unruhig und wenig er quickend. Wenn Glanville wenig schlief, so ging es van Borbeck nicht besser. Ihn hatte der Traumgott be sucht und ihm zuerst Scenen von Mord und Blut vor die Seele geführt, in welche jedoch bald eine lieblichere Erscheinung sich mischte, die Erscheinung der holden Miß Glanville. Jetzt fuhr er mit der Hand über die Stirn, als wollte er das Bild des jungen Mädchens verscheuchen, welches nicht nur in seine Träume, sondern selbst wachend in seine Gedanken sich zu verirren drohte. Die Freundschaft ist eine Blüthe, die zu ihrer Reife der Zeit bedarf; allein die Liebe ist zuweilen eine Tochter des Augenblicks. Sie fliegt uns an, wir wissen nicht wie, sie erfaßt uns, ohne daß wir wissen, woher sie kommt; sie ergreift uns, cleeirisirt uns, bemächtigt sich unseres ganzen Wesens, ohne daß wir uns ihrer Gewalt entziehen, oder selbst mir die Natur derselben zu anatomiren vermöchten, und so entscheidet oft ein Moment über das Schicksal eines ganzen Lebens. Man muß gestehen, daß die Umstände, unter welchen er Miß Glanville zuerst gesehen, ganz geeignet waren, einen unauslöschlichen Eindruck auf das Herz des Capitäns hervorzubringen; immer schwebte das Bild des bleichen jungen Mädchens, wie sie flehend