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Sormaßend, den 25. Mai " Aeltetrißische Aeilage zum sächsischell Erzähler. Zur gemeinnützigen Unterhaltung für alle Stände. Wirrniß -es Heyens. *) Novelle von F. Brunold. In jeder Stadt, in jedem Dorf, in jedem Hause und Herzen spielt ein Roman. Wer ihn nur so zu schreiben vermöchte, wie er erlebt und empfunden wurde! Drüben aus dem letzten Hause der Stadt, dort wo die Linden stehen und der See mondbeglänzt herüberschimmert, erklingen die Töne einer Geige. Und was kein Wort der Sprache auszudrücken ver mag, die Saiten klagen es, die Saiten sagen es; sie sprechen es aus, klar, verständlich, tief ein schneidend, in tiefster Brust empfunden, aus reinster Seele heraufbcschworen. Es ist ein meisterhaftes Spiel! Silcher's allbekannte, köstliche Melodie zur Lorelei liegt der Phantasie zum Grunde. . Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, , Daß ich so^traurig bin; Ein Märchen aus alten Zeiten, Das kommt mir nicyt aus dem Sinn, — so tönt es, weich, einschmeichelnd, wie ein Lied, das wir in der Kindheit Tagen gehört und nicht wieder vergessen haben. - Am Fenster des palastartigen Gebäudes, das vor Kurzem erst aufgeführt wurde und das in seiner Pracht und Eleganz nicht recht zu den übrigen Häusern der Stadt, besonders in dieser Gegend, passen will, steht eine Jungfrau. Noch schimmert der Camelienkranz in ihrem Haar, noch umhüllt das prächtige Kleid ihre Glieder, aber das Lächeln der Freude, das vor einer Stunde noch auf ihrem Ge sicht gelegen, es ist verschwunden. Es ist verschwunden, wie all' die Lichter, die noch bis vor Kurzem den Saal so blen dend erleuchtet, wie all' die fröhlichen Gäste, die ge kommen waren, ihr Glück zu wünschen zu ihrem achtzehnten Geburtstage. Mit Thränen überströmtem Auge starrt sie in die Nacht, lauscht sie dem Spiel, das durch die Stille der Stunde vernehmlich zu ihr herüberklingt. Adele, das junge Mädchen, dessen Geburtstag heute so glänzend gefeiert worden war, verstand die Sprache der Saiten. Sie wußte es, daß in diesem Augenblick ein Jünglingsherz alle seine Freuden, sein Glück, seine Hoffnungen zu Grabe trug; sie wußte es, daß Der, der jetzt so meisterhaft spielte, sie innig geliebt hatte, rein, unbetrübt, wie nur ein künstlerisch gestimmtes Weiche- Herz zu lieben vermag, das in der Geliebten ein - ') Aus der „Dida-kalia" entnommen. Abbild Gottes sieht, ein Engelsangesicht, gemalt auf lichtem Goldgrund. Mitternacht ist vorüber; der Mond zieht gleich einer Friedensfahne am Himmel entlang. Die Geige ist nicht verstummt, sie tönt fort, bald weich, bald grell, wild aufschreiend, wie wenn ein Herz im Tode bricht, bis endlich die zuerst aufgenommene Melodie auf's Neue erklingt und die Worte gleichsam zu ihr herüber dringen: Ich glaube die Wellen verschlingen Am Ende Schiffer und Kahn, Und das hat mit ihrem Singen Die Lorelei gethan. Die Geige schweigt. Und sie, der alle diese Töne gelten, sie steht weinend am Fenster. Anderen Tages aber ging die Sonne unbewölkt auf. Es war, als wäre kein Schmerz empfunden worden, als wäre der Himmel allen Seelen un getrübt gewesen. Brigitte, die Adele als Kind auf den Armen getragen und die seit dem Tode^ der Mutter dem ganzen Hauswesen vorsteht, wundert sich, daß ihre junge Herrin, ihr Liebling, heute so lange schläft. Sie hat ja der Neuigkeiten so viele auf dem Herzen und brennt darnach, sie anzubringen; kein Wunder also, wenn für sie die Stunden am Morgen heute langsamer dahin gehen, als sonst. Und als Adele sich endlich erhoben, wie beeilt sie sich, Alles, was sie vernommen, anzubringen! Sie sieht die überwachten Augen ihrer jungen Herrin nicht; sie hat keine Ahnung davon, daß sie mit ihrem Gespräch Wunden aufreißen könne! „Und weißt Du schon, mein Herzchen", sagte sie, indem sie zugleich den Caffee mit dem Rahm hin- ietzt, „daß der Henri, der Wittwe Matthieux Sohn, heute in der Frühe, die Geige ans dem Rücken, fortgcwandert ist? Es ist gut, daß er fort ist! Solche Leute verkennen immer ihre Stellung. Als Dein Vater den Henri in das Haus kommen hieß, damit er Deinen Gesang begleite, da that er ein gutes Werk, denn die blanken Thaler, die er dafür bekam, konnte er brauchen. Aber daß er sich dabei andere Narretheien in den Kopf setzte, das war eine Dummheit und der Herr that Recht, ihm fein höflich die Thüre zu zeigen. Unsinn! solch' Habe nichts sein Auge zu der Tochter des reichen Herrn Mardon erheben zu wollen!" Adele, die bisher kaum der Worte geachtet, die nur das Eine vernommen, daß Henri den Ort ver lassen und infolge dessen in dumpfem Schmerze dafaß,