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SormLberrd, den 15. Juli. Aeltetrißische Aeitage zum sächsischen Erzähler. gemeinnützigen Unterhaltung für alle Stände. Zur Stephan Prake. Eine englische Criminalgeschichte. (Fortsetzung.) .Sie ging am Arm eines sehr respektabel aus sehenden Herrn, der zwischen sechzig und siebzig Jahr alt sein mochte. Sie selbst war fein Meidet, Von Angesicht noch immer hübsch, und wurde, wie es schien, von ihrem ältlichen Begleiter mit größter Ergebenheit und Zuvorkommenheit behandelt. Gleich wohl mußte, wer sie früher gekannt und sie un befangen betrachtete, sogleich gewahr werden, daß sie sich gär sehr zu ihrem Nachtheil verändert hatte. Sie sah zehn Jahre älter aus, als sie wirklich war, der Schmelz und die Frische ihrer Schönheit war dahin, die zarte Jugendblüthe abgestreift. Allein Stephan betrachtete sie nicht mit Unbefangenheit; ihm schlug bei ihrem Anblick wieder das Herz, und er fühlte, seine alte Liebe zu ihr war nicht todt. Einige Herren und Damen aus Southampton, die Ebenfalls eine Spazierfahrt hierher, nach Kloster Netley, gemacht, gingen in diesem Augenblick an dem Paare vorbei und grüßten es sehr höflich. Stephan fand Gelegenheit, einen dieser Herren, den er kannte, zu fragen, wer die beiden seien, die wie Winter und Sommer aussähen. „Herr Johann Parsons und seine Nichte, Fräu lein Bissington", war die Antwort, „er ist ein sehr reicher alter Knabe und auf das Mädchen nicht wenig stolz. Er wohnt in Shirley, hat da ein hübsches Haus, pnd da er ein Junggesell ist, so erbt die Nichte Alles." „Ist sie seine Nichte von Vaters Seite?" fragte Stephan. „Ja, so heißt es." Damit endete das Gespräch. In Shirley, einem Flecken dicht bei Southampton, standen damals nur erst wenige Häuser und diese weit auseinander. Eines derselben und zwar das stattlichste hieß Villa Shirley und war die Wohnung jenes ParsonS. »Der alte Herr war in der Gegend recht beliebt, obwohl er bei seinen Freunden in dem Rufe stand, trotz seiner weißen Haare in einem ge wissen Punkte noch immer ein lockerer Bogel zu sein. Böse Zungen wollten namentlich auch sein Berhältniß zu seiner hübschen Nichte allzu intim finden. Doch that dies, wie gesagt, seiner Beliebtheit keinen Ein trag; das zeigte sich, als kurze Zeit, nachdem Stephan Drake jene Begegnung gehabt, ein schrecklicher Vor fall in Villa Shirley die ganze Gegend in Aufregung brachte. Herr Parsons war in seinem Bett er mordet gefunden worden, die Nichte oder die Person, die . man dafür gehalten, war verschwunden, und mit ihr eine große Summe in Geld und Geldeswerth, namentlich viele Goldsachen und Juwelen. Nach Abschluß der ersten hastigen Untersuchung dieses Raubmordes erließ die Polizei einen Verhafts- befehl gegen Stephan Drake, der kurz vor dem Ereigniß seine Wohnung im Wirthshause „Zum Herzog von Jork" verlassen hatte und seitdem nicht wieder gekommen war. Aber am dritten Tage stellte er sich daselbst freiwillig ein und zwar in einem jämmerlichen Zustande. Er sei, so erzählt er, auf der Landstraße angefallen, beraubt und so zerschlagen worden, daß er für todt auf dem Platz blieb ; ein Bauer habe ihn gefunden und in seine Hütte gebracht, wo er sich so weit erholte, um heimzukehren. Die Polizei nahm den Matrosen fest und verhörte ihn; er gab an, der Angreifer habe ihn hinterrücks durch einen Schlag auf den Kopf zu Boden gefällt und betäubt; er wisse dessen Person daher nicht zu beschreiben. Befragt, wann er Marie Bissington zum letzten Male gesehen, antwortete er zuerst, vor vierzehn Tagen. Aber dem widersprach sogleich ein Zeuge, ein Fährmann von dem Flusse, an welchem die Stadt liegt. Dieser behauptete, er habe den Gefangen etwa um zwölf Uhr in der Nacht, wo der Mord vorgegangen, mit der Marie Bissington zusammengesehen. Drake schien darüber sehr erstaunt und betreten; er fragte, wer denn ermordet worden, und als man ihm den Thalbestand mittheilte, fiel er ohnmächtig nieder, und man mußte ihn in seine Zelle zurücktragen. Am nächsten Tage wurde das Verhör erneuert; aber er antwortete nicht, er starrte in stiller Verzweiflung vor sich hin. Natürlich be stärkte das den Verdacht; doch hielt man ihn nur für einen der Helfershelfer, nicht für den eigentlichen Thäter. Den Mord selbst hatte Jemand anders verübt, das erhellte mit ziemlicher Gewißheit aus dem, was die Untersuchung der Verhältnisse im Parsons'schen Hause ergab. Das Gesinde daselbst hatte längst gewußt, daß Marie Bissington nicht eine Verwandte, sondern die Maitresse des Herrn Parsons war; diese gebot unumschränkt im Hause und über den Herrn, erkaufte sich aber das Stillschweigen der Dienerschaft durch Nachsicht und durch kleine Geschenke. An dem Abende, der dem Morde vorherging, hatte Marie an das Gesinde Billete zum Cirkus ver- theilt, und nicht ein Bedienter, nicht ein Dienst mädchen war zu Hause geblieben. Gegen 11 Uhr