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Ein Irrtum. 274 - eine trotzige, bittere Widerstandskraft heroorgerufen hatte. Vielleicht auch deuteten die halbdunklen Kleider auf einen Trauerfall. Vielleicht hatte der unerbittliche Tod ihr das Wesen, das ihr das Teuerste auf der Welt war, vom Herzen gerissen und sie hatte noch nicht die ergebungsvolle Resig nation in den Willen der Vorsehung gefunden. Jedenfalls war die Erscheinung der jungen Dame eine so bedeutende, über die Alltäglichkeit hinausragende, daß die eben angestellten Betrachtungen, mit denen der Be obachter der beiden Damen sich lebhaft beschäftigte, gerecht fertigt erscheinen durften. Schon einmal hatte die Persönlichkeit der Dame sein Interesse wachgerufen, als er sie in deni Gewühl des Bahn hofs, wo sie mit dem gleichen Zuge wie er in Dresden an gelangt sein mutzte, erblickt hatte. Doch war sie ihm dort bald wieder aus den Augen gekommen. Nun sah er sie hier zum zweitenmal, und als er in den Anblick ihrer herrlichen Erscheinung und in Grübeln über das Rätselhafte derselben versunken stand, wurde sein Interesse für sie ein immer regeres, so datz er, als die Damen nach einer Weile den Ort verließen, ihnen in einiger Entfernung folgte. Das Ziel der Wanderung war eins der bestrenommier testen Hotels Dresdens und — wunderbare Fügung — das selbe, wo auch er abgestiegen war. Lag darin ein Finger zeig des Schicksals, der nicht unbeachtet bleiben durfte? Das nächste, was der Fremde, auf sein Zimmer gelangt, tat, war, daß er den Kellner herbeischellte. Dieser erkundigte sich in einem wunderlichen Mischmasch von Französisch und Englisch nach den Befehlen des Herrn. „Sie sprechen nicht deutsch?" fragte der letztere. „O, ja, ja, Herr Graf! Bin ja ein geborener Sachse!" lautete die kauderwelsche Antwort. „Dann ziehe ich es vor, in Deutschland deutsch zu sprechen!" versetzte der Fremde. „Zu Befehl, Herr Gras!" machte der Ganymed. „Bitte, ohne weitere Titulaturen!" verwahrte sich der Herr. Der junge Mensch verzog sein Gesicht zu einem Grinsen. „Ah! Ich verstehe!" rief er. „Der Herr Graf wünschen inkognito —" „Beantworten Sie mir einfach die Frage," unterbrach ihn der Fremde: „Wer ist die junge in Halbtrauer geklei dete Dame, die heute mit demselben Zuge wie ich in Beglei tung eines jungen Mädchens hier anlangte?" Der Kellner strich nachdcnkend seine kühngeschwungene Tolle in die Höhe und sagte dann zögernd: „Ja, Mylord, die Frage ist nicht so leicht zu beantworten. Da wäre erstens —" „Vielleicht stärkt dies Ihr Gedächtnis!" unterbrach der Frager ihn. indem er ihm ein Dreimarkstück in die Hand drückte. „Ah," ließ der Kellner sich jetzt auf einmal äußerst ge läufig vernehmen, „Sie meinen vielleicht die Dame, die vor ungefähr zehn Minuten mit ihrer Begleiterin von einem Ausgang heimkehrte? Ich begegnete ihr im Korridor." „Eben die!" bestätigte der Fremde. „Da bin allerdings in der glücklichen Lage, dem Herrn Grafen, wollte sagen: dem Herrn dienen zu können. Ich hörte zufällig, wie sie den Oberkellner bei ihrer Ankunft fragte, ob ein Brief, an ihre Adresse lautend, hier im Hotel für sie abgegeben sei, was auch wirklich der Fall war." „Ah! Und der Name?" „Sie hat, nachdem sie den Brief gelesen, zu heute abend den Wagen bestellt, der sie nach dem Bahnhof bringen soll. Sie reist von hier nach Berlin." „Und der Name?" „Ja, der Name — ich kann mich wahrhaftig nicht mehr genau entsinnen. Ich glaube, er klang wie — wie —" „Unverschämter Bursche!" murmelte der Fremde zwischen den Zähnen, während er ein zweites Geldstück seiner Börse entnahm. „Ah, richtig!" machte der Bursche. „Jetzt fällt er mir wisder ein! Baronin Wally von Tornau!" — „Frau oder Fräulein?" forschte der junge Fremde. „Ich hörte, daß ihre Begleiterin sie „gnädige Frau" nannte. Eine junge Witwe vermutlich! Meinen der Herr Graf nicht auch?" , „Behalten Sie Ihre Vermutungen für sich! Die meinigen kümmern Sie nicht!" entgegnete der Gefragte kurz. „Es ist gut! Sie können gehen!" Damit schob er dem Kellner das Geldstück zu. „Scheint ein verdammt vornehmer Herr zu sein!" brummte dieser draußen im Korridor, indem er schmunzelnd mit den Geldstücken in der Tasche klimperte. Der andere ging, nachdem der Kellner das Zimmer ver lassen hatte, hastig in demselben auf und ab. Man sah, datz er mit einem Entschluß kämpfte. Endlich war er zu einem Resultat gelangt und dieses Resultat bestand darin, der jungen Fremden nach Berlin zu folgen. Man schreibt und spricht viel von der Zähigkeit der Eng länder in Verfolgung ihrer Ideen, aber man darf auch bei dem Deutschen ein gutes Teil von dieser Eharakterzähigkeit suchen, wenn derselbe, mit seiner philosophischen Zugabe, sich auch nicht so leicht in Torheiten verliert, wie man sie den genannten Insulanern, nicht selten mit karrikaturmäßiger Übertreibung, nachrühmt. Der Oberleutnant Dietrich von Schilda besaß infolge seines militärischen Berufes und seines angeborenen Charak ters jedenfalls Zähigkeit genug, um eine einmal gefaßte Idee mit Beharrlichkeit zu verfolgen. Er befand sich ohne ein bestimmtes Ziel auf einer mehrwöchigen Vergnügungs reise. Warum, so fragte er sich, sollte er der jungen Dame, die einen so tiefen Eindruck auf ihn gemacht, die seit einigen Stunden ausschließlich seine Gedanken beschäftigte, nicht nach Berlin folgen? Er war sich noch nicht klar darüber, was er weiter beabsichtigte. Er fühlte nur, wie ein geheimes magisches Band ihn mit unwiderstehlicher Macht zu ihr zog. Jedenfalls wollte er versuchen, ihre persönliche Bekanntschaft zu machen, das Rätsel, das für ihn in ihrem Wesen lag. zu ergründen. Dann würde er ja weiter sehen. Daß dieselbe eine junge Witwe sei, glaubte auch er mit Bestimmtheit annehmen zu dürfen. So fand er sich denn zu demselben Zuge auf dem Bahn hof ein, mit dem die Baronin Dresden verlassen wollte. In dasselbe Koupee mit den Damen zu gelangen, war ihm nicht gelungen, da die Baromn ein Damenkoupee gewählt hatte. In nicht ganz behaglicher Stimmung vergingen dem Oberleutnant die Stunden, die er in dem Berlin ent gegenbrausenden Kurierzuge verlebte. Er schalt sich wegen seiner romantischen Laune, wie er es jetzt nannte, und ver gegenwärtigte sich die spöttischen Bemerkungen, die ihm von seinen Kameraden zu teil werden würden, wenn sie Kenntnis davon erhielten. — Es war auch eigentlich gar zu albern, einer wenn auch interessanten Frau wegen, von der er nichts weiter als den Namen wußte, seine freien Tage in dem heißen, staubigen Berlin zuzubringcn, statt in herrlicher Naturumgebung Geist und Körper nach dem langweilige» Earnisonleben zu erfrischen. Aber er tröstete sich damit, daß es ja jeden Tag in seiner Macht liege, die so unerwartet ge faßte Idee fallen zu lassen, und diese scheinbare Freiheit söhnte ihn mit seiner Lage wieder aus. Als die langweilige Fahrt auf der Eisenbahn überstan den war, waren auch seine Bedenken und Skrupel zum größ ten Teil wieder verschwunden. Es war Nacht, als der Zug in Berlin anlangte, und es galt nun vor allen Dingen, die Baronin im Auge zu behal ten, um zu erfahren, nach welchem Hotel sie sich wenden würde. Das gelang ihm denn auch, da sein Gepäck, ein Hand koffer, ihm keine großen Schwierigkeiten bereitete. Er hörte, wie die Begleiterin der Baronin dem Kutscher den „Kaiser hof" als das Ziel ihrer Fahrt bezeichnete, und folgte in einem andern Wagen den Damen dorthin. >, So peinlich cs dem Oberleutnant war, sich mit seines. Erkundigungen immer an die Hotcldienerschaft halten zu