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Der alte Leuchtturm. 315 „Meine lieben Verwandten! Obwohl wir uns kaum kennen, möchte ich mir doch erlauben, mich in der mißlichen Lage in welcher ich mich befinde, Ihnen in Erinnerung zu bringen. Vielleicht sind Sie von dem Schicksalsschlag, der mich getroffen hat, gar nicht unterrichtet. Mein Gatte ist vor un gefähr einem Jahre gestorben, und ich war dadurch so nieder geschmettert, daß ich eine Freundin bat, Ihnen die betref fende Mitteilung zu machen. Da ich von Ihnen keine Nach richt erhielt, so möchte ich annehmen, daß die Todesanzeige nicht in Ihre Hände gelangt ist. Aber ich zweifle nicht daran, daß die Schwester meines Vaters meinen Kummer teilen und es nur natürlich finden wird, wenn ich mich, um Rat fragend, an Sie wende. Mein armer Gatte, welcher, wie Sie wissen, Kaufmann war, hatte in den letzten Jahren unter schlechtem Geschäfts gang zu leiden und konnte uns nur ein kleines Vermögen hinterlassen, welches mir eine recht schmale Rente jährlich abwirft. Mein Einkommen ist selbst für die Provinz nur sehr gering, aber für Berlin ist cs geradezu ein Elend, be sonders wenn man noch eine achtzehnjährige Tochter besitzt. Elisabeth hat ihr Lehrerinnenexamen gemacht und wird ver möge der guten Verbindungen, die wir früher unterhielten, auch wohl einen Platz in der Welt finden. Ich habe nun den Entschluß gefaßt, Berlin zu verlassen, weil ich in der Pro vinz von dem wenigen, über das ich verfüge, leichter leben kann, und begreiflicherweise die Stadt ins Auge gefaßt, in der ich geboren bin und wo ich noch Verwandte finde. Ich möchte Sie sehr bitten, liebe Tante, mir bei dieser Gelegenheit mit Ihrer Erfahrung beizustehen. Ich suche eine kleine, bescheidene und doch anständige Wohnung im Preise von vierhundert Mark und denke, daß es meinen Vettern, auf deren Bekanntschaft ich mich sehr freue, nicht schwer fallen wird, eine solche für mich ausfindig zu machen. Wenn Ihre Antwort für mich günstig ausfällt, so beabsichtige ich gleich in den ersten Tagen des April zu Ihnen überzusiedeln. Entschuldigen Sie, liebe Tante, die Freiheit, die ich mir nehme. Er grüßt Sie mit der größten Hochachtung Ihre Nichte Marie Bormann." Nach Beendigung der Vorlesung herrschte einige Sekun den lang tiefes Schweigen im Zimmer, währenddessen Franz den Brief mechanisch in der Hand behielt. „Das ist eine schöne Bescherung!" fuhr Rudolf dann ärgerlich auf. „In dieser Weise kann nur eine Berlinerin vorgehen. Eine Verwandte von Adam und Eva her, mit welcher wir in dreißig Jahren kaum zwei Briefe gewechselt haben!" Fräulein Antonic antwortete nicht. Sie sah mit ge runzelten Vrauen nachdenklich vor sich hin und schien in Er innerungen vertieft. „Wenn die Damen erst in M. wohnen, werden sie uns wahrscheinlich oft besuchen," bemerkte Franz, dem ein kalter Schauer bei dem Gedanken überrieselte, daß ihm als Ältestem die Verpflichtung zufallen würde, die beiden Berlinerinnen zu empfangen. „Wir werfen den Brief einfach in den Papierkorb und damit ist die Sache abgemacht", entgegnete Rudolf heftig. Es kann doch niemand verlangen, daß wir um dieser Fremden willen unser Leben völlig verändern. „Aber es sind eure Cousinen, die direkten Nachkommen meines Bruders Fritz", warf Fräulein Antonie, aus ihrem Nachsinnen erwachend, ein. „Du hast doch niemals von diesen Verwandten gesprochen, liebe Tante." „Das ist wahr, ich habe sie fast vergessen gehabt. Seit mein Bruder Fritz nach Berlin verzog, schien er uns eben falls vergessen zu haben. Seine Tochter heiratete einen Herrn Bormann, einen Hohlkopf, der stets große Projekte und leere Taschen hatte. Ich erinnere mich jetzt auch, daß er einmal von eurem Vater Geld leihen wollte. Aber Brieger lehnte es ab und es trat darauf eine Entfremdung zwischen den beiden Familien ein. Die Witwe und ihre Tochter sind aber nichtsdestoweniger eure nächsten Verwandten, Kinder, und zugleich eure einzigen." „Wozu braucht man Verwandte!" rief Rudolf. „Du siehst ja, sie melden sich nur, wenn sie sich in Verlegenheit befinden. Wir drei genügen uns, wir sind glücklich mitein ander, weiter ist nichts nötig." „Das ist wohl richtig, Rudolf, und ich bin ja auch immer zufrieden gewesen. Aber", fuhr Tante Antonie, einen melancholischen Blick um sich werfend, fort, „wenn ich meine Erinnerungen so um fünfzig Jahre zurückschweifen lasse und daran denke, wie zahlreich damals unsere Familie war und wie sie mit der Zeit zusammengeschmolzen ist, dann wird mir doch wehmütig zu Sinne. Wenn mein Vater noch lebte, würde er wohl sehr betrübt darüber sein, sein Haus ohne junge Sprossen zu sehen. Er hatte mit seinen drei Töchtern und dem Sohn die ganze Burgstraße zu bevölkern geglaubt. Ich erinnere mich noch an das letztemal, wo die ganze Familie beisammen war — es war bei Gelegenheit einer Taufe, Rudolf. Mein Vater war so glücklich darüber, sie alle beieinander zu haben! Seitdem sind wir niemals wieder vollzählig versammelt gewesen," fügte Tante Antonie hinzu und drückte ihr Taschentuch gegen die Augen, die ihr feucht geworden waren. (Fortsetzung folgt.) Der alte Teuchtturm. . Skizze von Er Hln die hundert Jahre stand er schon auf seinem Posten, aber wer e? nicht wußte, gab ihm wohl ein höheres Alter, so verwittert war er. Besonders an Hellen Tagen und bei schönem Wetter schätzte man ihn älter. Sah man ihn dagegen, wenn der Himmel bewirkt war und das ergrimmte Meer Welle auf Welle gegen seine Quadern schleuderte, schien er voll trotziger Jugendkraft zu sein. Und es war dunkel geworden, so, daß die Umrisse seiner ragenden Gestalt sich in schwarzen Schatten verloren, er blickte man nur sein Auge, sein glänzendes, durchdringendes Feuerauge. Das öffnete er in kurzen, regelmäßigen Ab ständen, und dann strahlte er hinaus aufs Wasser, meilen weit. Nacht um Nacht, in allen Jahreszeiten, durch alle Jahre. War die Finsternis auch noch so tief und schaurig, der Strahl durchbrach sie, und erzitterte die steinerne Warte unter dem Anprall der Wogen, das Auge öffnete und schloß sich unbe- kümmert darum und nicht eine Sekunde früher oder später. nst Berneck. Nur einmal — aber das mußte schon lange her sein, weil jeder, der davon erzählte, es auch nur vom Erzählen wußte — war es einem Orkan geglückt, eine der dicken Kristall scheiben einzudrücken und das Licht zu löschen. Da waren zwei Schiffe schmählich gestrandet. Doch vielleicht hätte es das Leuchtfeuer auch nicht verhindert. Wenn kein Segel hält und kein Steuer gehorcht, bringt die Nähe der Küste selbst bei Tage Gefahr. Dann noch, als Krieg war — auch damals durfte kein Leuchtfeuer brennen. Es wies den Freund, aber auch den Feind zurecht und der Feind konnte unter dem Schutze der Dunkelheit einen Angriff oder eine Landung versuchen. Aber das mit dem Kriege war auch schon fast vergeßen, nur die alten Leute besannen sich noch darauf. Am besten wohl Mathias Röhrs, der weißbärtige Leucht turmwärter, und er plauderte gelegentlich davon, wie die fremden Kriegsschiffe am Horizont immer hin und herge fahren seien, so daß sich kein Fischerboot mehr hinausgetraut hätte. Geschossen sei auch worden, aber viel Schlimmes habe