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Der Fall Marion. änderte sich nun zu seinen Gunsten. Der Kaiser nahm sich der Angelegenheit an und nachdem alle Formalitäten er füllt waren, kam Marion hierher zurück. Ich muß bekunden, daß sein Leben seitdem ehrenhaft war. Er hat einen Ver wandten beerbt und ist jetzt Rentier.... Die ganze Ge schichte ist heute tot, die meisten Zeugen sind gestorben, und niemand in der Gegend denkt noch daran, auch nur die leiseste Anspielung zu machen." Ich wollte Einzelheiten hören. „Ach? Ich habe die Angelegenheit nicht mehr klar im Gedächtnis.... übrigens war meiner Ansicht nach — ich wohnte der Schwurgerichtsverhandlung bei — der Fall sehr mysteriös . . . „Aber er ist doch unschuldig.... Das Geständnis des Schuldigen . . . ." „Selbstverständlich ist er unschuldig.... Dagegen ist gar nichts zu sagen . . . Das Geständnis des Schuldigen war klar.... Ich für meinen Teil habe, als man damals noch Zweifel erhob, mich kategorisch dagegen ver wahrt. Ich bin für feststehende Dinge," fügte Herr Lebrun lächelnd hinzu. „Als Marion verurteilt wurde, glaubte ich an seine Schuld .... Als das Gericht beschloß, er wäre das Opfer eines Irrtums gewesen, glaubte ich sofort an seine Unschuld." „Aber wie ist Ihre ehrliche Ansicht?" „Meine Ansicht ist die, daß fast vierzig Jahre seitdem vergangen find." Und ohne noch ein Wort hinzuzufügen senkte Herr Lebrun seine Angel wieder in den Fluß. Zn jedem Sommeraufenthalt beginnt man sich schließ lich ein wenig zu langweilen. Es kommt ein Moment, in dem man der Trägheit überdrüssig wird, und sie so be drückend auf den Geist wirkt, wie eine schwere Arbeit, und um mich zu zerstreuen, beschloß ich, wenn es möglich wäre, den Vater Marion zu veranlassen, mir seine Geschichte zu erzählen. Ich begegnete ihm oft, bisweilen vor der Tür, manchmal ans dem Wege, der an dem Flusse entlang führte. Wir plauderten stets einen Augenblick. Gr wünschte mir einen guten Fang, ich erkundigte mich nach seinem Ergehen und damit war unsere Unterhaltung erledigt. Nach den Enthüllungen des alten Notars war meine Neugierde er regt worden, und ich versuchte, weniger oberflächliche Be ziehungen zwischen uns herzustellen. Eines Tages bot ich ihm Fische an, die er unter der Bedingung annahm, daß ich einen Pflaumenschnaps bei ihm tränke, den er aus den Früchten seines Gartens hergestellt hatte. Darauf lud ich ihn zum Abendbrot ein. Es handelte sich nur darum, eine Anknüpfung zu finden. „Sie sind mit dem Notar Lebrun bekannt. Ich habe es bemerkt," sagte der Vater Marion. „Er ist auch ein leiden schaftlicher Angler wie Sie... Ach! er und ich kennen uns schon sehr lange." „Za," erwiderte ich. „Wir haben uns befreundet. Er ist ein reizender Mann." Und ohne zu zögern fügte ich schnell hinzu: „Wir sprachen... von Ihnen. Ich kannte Ihren . . . schrecklichen Fall schon . . . bevor ich hierher kam." Ich drückte ihm die Hand. „Armer Herr Marion." Und ich dachte: So, nun habe ich ihn so weit. Ich hatte Verwunderung oder eine traurige Miene er wartet, aber er war weit davon entfernt, Erstaunen oder Kummer zu empfinden und begann zu lachen. „Za, ja! das dachte ich mir. Die Sache hat damals großes Aufsehen ge macht . . . Mein Gott, was wurde darüber gesprochen! Zn Paris ist sie auch bekannt, wie?" „Sehr bekannt," versicherte ich. Das Eis war gebrochen, der Vater Marion schenkte sich einen Schnaps ein und noch immer lächelnd, erzählte er mit liebenswürdiger Gutmütigkeit: „A ja! das war eine merkwürdige Geschichte Zuerst, als ich heimkehrte, hat man mich überall gefeiert. Dann versuchte man mich in die regierungsfeindliche Partei zu ziehen. Ich verweigerte es, ich habe nie etwas mit der Politik zu tun haben wollen. Kaum war ich sechs Monate zu Hause, begann man zu erklären, daß mein Justizirrtum eine Erfindung der Regierung wäre, und daß ich meine Freilassung List und Protektion verdankte . . . Man wich mir auf der Straße aus. Mir war das vollkommen egal. Von einigen Zeitungen des Kreises wurde ich angegriffen, andere verteidigten mich.... Nein, es war zu komisch! Sechs Monate lang war ich unschuldig, und mit einem Male war ich wieder schuldig. Einige Zeit war ich ein von allen Leuten geachteter Märtyrer, es kamen Reisende nur in die Stadt, um mich kennen zu lernen .... und eines schönen Tages wechselte die Meinung ohne jeden Grund. Zch war ein verlogenes Scheusal, das die Justiz betrogen hatte ... Zst es nicht seltsam? . . . Aber schließlich ver gißt sich alles . . . alles vergeht, alles verweht, nichts besteht, nicht wahr? Denken Sie sich" — der Vater Marion sah jetzt so vergnügt aus, als ob er sich eines lustigen Streiches erinnere — „Weil mein Name in der ganzen Gegend sehr bekannt ist — und man sich nicht mehr erinnerte weshalb — kam man am vierten Sep tember zu mir, um mir das Bürgermeisteramt anzutragen... Ha, ha, Sie können sich denken, daß ich diese Ehre ab lehnte . . . Jetzt ist alles vorbei . . . mein Fall ist eine Legende geworden . . ." Seine Ungezwungenheit überraschte mich außerordent lich. Was mich aber besonders verblüffte, war, daß Vater Marion nicht die geringste Feindseligkeit gegen seine Kerkermeister hegte; nie sprach er von seinen Leiden in Noumsa und schien auch nicht den leisesten Groll gegen die Gesellschaft wegen des entsetzlichen Abenteuers zu hegen, dessen Opfer er gewesen war. Auch ich wußte nicht mehr, was ich denken sollte. Be trachtete ich seinen weißen Bart, sein schönes noch festes Ereisenantlitz, so sah ich in ihm den einfachen, doch überlegenen Philosophen; betrachtete ich aber seine klaren, kalten Augen und seine dünnen Lippen, stieg in mir der fürchterlichste Verdacht aus. Natürlich wagte ich nicht, ihm die Frage zu stellen, die mir auf der Zunge schwebte: Sind Sie nun unschuldig oder nicht? Denn in den drei Monaten, während denen wir zusammen geplaudert hatten, war es ihm nie eingefallen, mir klar und deutlich zu sagen: Zch bin unschuldig. Am Abend vor meiner Abreise nach Paris aßen wir zusammen. Ich begleitete ihn nach seiner Wohnung. Wir schüttelten uns die Hand. Da sah er mir gerade ins Gesicht, und zwar mit einem Lächeln, das mir in jenem Moment teuflisch erschien, und vielleicht nichts weiter als eine zarte und ioronische Anspielung über meinen ungerechten Verdacht war, den er erraten hatte: „Soll ich Ihnen etwas ganz Merkwürdiges sagen? Zch bin heute achtundsechzig Jahre alt. Es ist von keiner Be deutung mehr, wer 186» ein Verbrechen begangen hat oder nicht. Nun hören Sie! man hat mir so oft gesagt, daß ich schuldig wäre und nachher, daß ich unschuldig bin, daß ich cs auf Ehrenwort selber nicht mehr weiß ..." Und er verschwand in seinem kleinen Hause, nachdem er mir noch freundschaftlich zugenickt hatte.