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Der Fall Marion. 107 „Ziehen Sie den Automobilmantel an, ich werde gehen und alles holen, was Sie brauchen. Sollte doch jemand von der Dienerschaft kommen, verlieren Sie nicht den Kopf, sagen Sie, Sie warteten auf mich, Mr. Kepsy, ich bin gleich wieder da." Oben in seinem Zimmer nahm Fredy aus dem Schrank einen blauen Anzug, ein Tennishemd, Stiefel und eine Krawatte. Dann nahm er aus seinem Schreibtisch hundert Dollar und steckte das Geld in die Tasche der Hose, die für den Flüchtling bestimmt war. Er lief rasch mit den Sachen die Treppe hinab, öffnete die Tür des Zimmers, und reichte dem Fremden die Sachen. „Kommen Sie nicht heraus, bevor ich nicht anklopfe, und auf keinen Fall, bevor Sie vollständig angckleidet sind." Fredy klingelte Ereedly und befahl das Automobil, er wolle in einigen Minuten ausfahren. Als der Haus meister gegangen war, öffnete Fredy das Zimmer und sah, wie der Fremde sich vor dem Spiegel sorgfältig die Kra watte band. „Rascher!" flüsterte Fredy, „das Auto ist gleich vor der Tür. Wohin wollen Sie fahren?" „Nach Newyork," sagte der Fremde. „Und befehlen Sie, rasch zu fahren. Hier in der Tasche ist Geld." „Es ist für Sie." „Sie haben recht!" rief der Flüchtling gerührt — „ich werde es Ihnen nie vergessen. Ich sende es natürlich mit den Kleidern zurück." Vor der Tür hielt das Automobil. Fredy trat auf die Terrasse, wo ihn sein Chauffeur James erwartete, auf den er sich vollkommen verlassen konnte, da er ihn von frühester Jugend auf kannte. „Du fährst einen Mann nach Newyork," sagte er, „oder wohin er will. Sprich nicht mit ihm, und stelle keine Fragen, dann kannst du wenigstens sagen, du weißt von nichts, wenn man dich später ausfragen sollte." Der Chauffeur nickte und ging die Treppe herunter, aber er war noch nicht unten, als wieder das Gebrüll der Sirene ertönte, noch nicht befriedigt, ihr Opfer zurückfordernd. James zuckte zusammen und sah Fredy an. . „Stelle keine Fragen!" wiederholte dieser. In diesem Augenblick kam von oben seine Frau. Sie hatte ihre schönste Toilette an, und erschien Fredy so be zaubernd, daß er alles vergaß, und sie entzückt betrachtete. Aber das dauerte nicht lange. Zu seinem unbeschreiblichen Schrecken öffnete sich die Tür und der Fremde trat heraus, ^ie junge Frau schrie erschreckt auf. Sich besinnend rief ihm Fredy zu: „Sind Sie fertig?" Dieser nickte, wandte aber seine entzückten Blicke nicht von Mrs. Kepsy. „Gehen wir!" rief Fredy, „das Auto wartet." Aber der Fremde rückte nicht von der Stelle, er starrte die blendende Erscheinung der jungen Frau an, und sagte dann mit einer tiefen Verbeugung: „Meine Name ist Vanworden — Harry Vanworden." Ohne zu fragen, woher er so plötzlich erschienen sei, trat Vanny mit strahlendem Lächeln auf ihn zu, und sagte: „Wollen Sie nicht mit uns speisen, Mr. Vanworden?" „Es ist gar nicht Vanworden," ries ihr Gatte ver zweifelt, „es ist ein Techniker, der sich das elektrische Licht ansah." Er ergriff den Fremden am Ärmel und zog ihn zum Ausgang. Er zeigte auf die Golfmütze und die Autömobil- brille, die dieser in der Hand hatte, und sagte aufgeregt: „So setzen Sie doch die Brille auf, sonst erkennt man Sie. Sprechen Sie nicht — ich habe schon alles angeordnet, was nötig war." Der Chauffeur wartete auf das Zeichen zur Abfahrt, und Fredy nickte ihm zu. James beugte sich herab um die Maschine in Gang zu bringen ... da versperrte etwas Ent setzliches, Blutiges den Weg. Es war eingewickelt in die Lumpen eines grau- und rotgestreiften Anzuges und be mühte sich vergebens sich aufzurichten. „Ich ergebe mich!" murmelte der Unglückliche, „ergreifen Sie mich." Und die Stille der Nacht unterbrach wieder der Schrei der Sirene. Der Fremde besann sich zuerst. Er stieß Fredy zur Seite, nahm den Mantel von seinen Schultern und warf ihn auf den Armen, setzte ihm die Automobilbrille auf und schleppte ihn ins Auto. In die Hand des Chauffeurs steckte er das Geld. „So rasch Sie können! Bis zur Bahn sind es nur zwölf Meilen. Unterwegs kaufen Sie ihm Kleider, auf dem Bahn hof ein Billett nach Boston." Das Automobil verschwand rasch in der Dunkelheit. Fredy dachte, der junge Verbrecher würde gehen, aber zu seinem Erstaunen blieb er neben ihm stehen. „Und Sie?" fragte Fredy. Aber der sah nach der Stelle, wo Vanny stand, und sagte bittend: „Vielleicht gestatten Sie wirklich, daß ich zum Essen bleibe?" „Wer sind Sie denn?" fragte Fredy ganz benommen. »Ich sagte doch schon, daß ich Harry Vanworden bin." Zn der offenen Tür erschien der Haushofmeister. „Es ist serviert." Der Fremde stieß einen Ruf der Befriedigung aus. „Greedly," rief er. „Sagen Sie, bitte, Mr. Kepsy wer ich bin." Auf Greedlys Gesicht erschien ein Lächeln, dessen er nicht einmal Fredy gewürdigt hatte. Er verbeugte sich tief vor dem jungen Mann. „Wenn Mr. Harry Vanworden zum Essen bleiben, erlauben Sie, Sir, daß ich eine Flasche Paul Vibert 84 heraufbringe?" „Nicht eine Flasche, einen ganzen Korb," rief Mr. Kepsy. Um zehn Uhr, als sic noch bei Tische saßen, und den Grad vollständiger Übereinstimmung erreicht hatten, der sonst nur unter längst bekannten Menschen herrscht brachte Greely einen Zettel, auf dem eine soeben telephonisch eingelaufene Nachricht stand. Sie war vom treuen James. . Laut las Fredy: „Ich erhielt alles Notwendige, und setzte ihn in den Zug nach Boston. Auf dem Wege nach Hause bin ich arre tiert worden, wegen zu schnellen Fahrens durch die Stadt. Senden Sie Geld, um die Strafe zu bezahlen" Der Fall Marion. Skizze von Alfred Capus. Autorisierte Übersetzung von N. Collin-Berlin. er Wunsch nach einer einsamen und ruhigen Sommer- Wohnung führte mich eines Tages in eine kleine Stadt Mittelfrankreichs, die etwa fünfzig Meilen von Paris ent fernt lag. Zn dem Easthause, in dem ich mein Gepäck ließ, erkundigte ich mich, ob man in der Nähe nicht für einige Monate ein Häuschen mieten könnte. Der Wirt riet mir, zu Herrn Marion zu gehen, der eine kleine Villa besaß, die in der Gegend unter dem Namen „La Gaillardiäre" be kannt war. »Ich glaube, daß sie in diesem Jahr nicht bewohnt ist," fügte er hinzu. Herr Marion wohnte ganz nahe der Stadt in einem einstöckigen Bauernhause. Ich fand ihn vor der Tür, seine Pfeife rauchend. Er war vielleicht sechzig bis siebzig