Volltext Seite (XML)
unnötige Furcht gehabt, die Vorsichtigen unnützerweise Einkäufe gemacht. Nur die Eswürzkrämer und Kaufleute für Lebensmit telkonserven hatten Ursache, sich die Hände zu reiben, — ohne Hans Hermann zu vergessen, der eine ungeheuer große Einnahme erzielte. Er sollte die neunte Symphonie von Beethoven zu Ge hör bringen, und lange vor der Stunde ,in der die Türen geöffnet wurden, wartete die Menge im Schmutz der Straße umher, einer an diesem Aufruhrabend unheilvollen, kaum erleuchteten Straße, die mit Schutzleuten so überfüllt war, als ob das Oratorium irgendeine umstürzlerische Versammlung beherbergte. Man hatte es nicht gewagt, die Lampen am Eingänge anzuzünden, ein dichter Nebel hüllte die Stadt in Traurigkeit, und von den Dächern der Häuser fielen schmutzige Tropfen Wassers herab, wie Tränen aus einem triefenden Auge. Ich war in der Menge und drückte sorg sam das Werkzeug an meine Brust. Um mich herum befand sich das übliche Publikum derartiger Feierlichkeiten, doch es war das unbekannte, mittelmäßige Publikum der geringen Plätze — den Hals in Tücher gehüllt, den Hut in die Augen gedrückt — das den Schmutz der Straße festtrat. Um die Erwartung zu dämpfen, plauderten einige und spotteten über den Sturm des Schrecks, der über die Stadt dahingeweht war. Man hatte sogar die Erlaub nis, die Neunte zu hören? Bisweilen ertönte ein frohes Lachen. Ein junges Mädchen beugte sich zu mir und fragte mit sanfter Stimme Ist es wahr, Gentlemann, daß man eine Bombe auf uns schleudern wird? Ich fuhr nervös auf. Sie schien so glücklich zu sein, daß sie lebte so heiter so sorglos. Uebrigens waren diese Leute mir nicht unangenehm. Ich unterschied sie jetzt in dem Schatten und betrachtete sie aufmerksam. Meine Nachbarin war sehr hübsch un schuldig. Ich hatte Luft ihr zuzurufen: Gehen Sie dort nicht hin ein mein Fräulein! Und auch all denen, die mich umstanden, hatte ich Lust, ganz laut zuzulschreien: Zurück, Kameraden! «ine falsche Güt«, die ich für Schwäche hielt, drängte mich nach und nach dazu, «mzukehren um da« Werk weiter entfernt zu vollbringen. Aber ich beherrschte mich. Equipagen rollten heran, in denen elegante Damen Helle Toiletten entfalteten. Blitze von Edelsteinen durch drangen die Nacht. Das waren jene, di« ich treffen sollte. Mein Entschluß schien unerschütterlich Endlich öffnete man di« Türen, und sch dräng in da« Oratorium. Det Saal war bereit« mit Zuschauern gefüllt. Der Kontrast zwischen dem Licht hier innen und der Dunkelheit der Straße überraschte mich derart, daß ich die Augen schloß, unfähig, meinen Platz zu finden. Ich hatte ihn mir einige Tage im voraus in der ersten Reihe der Galerien besorgt und war zufrieden, festzustellen, daß er zur Ausübung mei nes Planes günstig gelegen war. Unter mir waren die Sitze des Balkons, der Logen, des Parterres mit einem glänzenden Gewühl überfüllt. Ich schämte mich fast meiner Schwäche. Ich befühlte meine Tasche — keiner dieser Menschen konnte meiner rächenden Geberde entgehen. Beifallsklatschen lenkte mich ab. Hans Hermann trat ein, anscheinend unempfindlich für die Ehrung, die die Menge ihm bereitete. Die Musiker standen und die Chorsänger, die vermutlich einem gebietenden Wort gehorch ten, jaulten ihrem Meister zu. Er grüßte mit gelangweilter Miene, ergriff feinen Taktstock, gebot Ruhe, bereitete dann die Arme aus und entfesselte mit bestimmter Geberde das Orchester. Ich bin nicht Musiker, und außer den Drehorgeln, den Ban- jospielern und den Kirchenliedern meiner Kindheit kenne ich nichts von Musik. Der Name Beethoven war mir auf jene Un bestimmte, unpersönliche Art geläufig, mit der wir gewisse große Dinge kennen: z. B. die Pyramiden oder dte Lehren Buddha's. So ist es erklärlich, daß ich den Instrumenten zerstreuten Ohres lauschte, vor allem darauf bedacht, den Augenblick, meine Bombe zu werfen, gut abzupassen. Nach und nach interessierte Vie Sym phonie mich jedoch. Die Herzensangst die Beethoorn quälte, als er diese berühmten Seiten niederschrieb, weckte in mir, ich weiß nicht, welches Echo. Ich bewunderte seine Gewalt, und unsere Schmerzen schienen di« gleichen zu sein. Als man den ersten Teil beendete, beschloß ich, noch einen Augenblick zu warten, bevor ich das Werkzeug meiner Tasche entnahm. Man spielte da« Scherz^ und meine Bewunderung kannte keine Grenzen mehr. Ich erhob mich wie dte anderen, ich schlug in die Hände. Tränen trattn mir in die Augen »ei d«r Erregung, die die ganze Meng« erschütterte. San« -ermann nahm den letzten Teil in Angriff. Den Kopf in meinen Händen »ergraben, mit geschlossenen Augenlidern, ver suchte ich es, zu verstehen. Und so erhaben diese Musik <mch war, so hoch über mir, war p« trotzdem so menschlichdaß ich mich in mir zuMand, daß ich meine Letdenchchreie, Mne «etMetflung, mein« Schmerzen, all mein Schltzchzen und all tnein« Empörung Sonnabend, 8. Juli. IiUtmt 4000 »Uni» sstnmstg «r. IS». Muster Jahrgang und Anzeiger für das Erzgebirge Annahme von Insertion,preie: Vie fiebengespalten« Rorp'urzeil« ober deren irren Anzeigen an bestimmt«, nn» eingehen. Sprechstunde der AedaV-v.mit Ausnahme der Sonntag, nachmittag, von q—» Uhr. — Telegramm-Adresse: Tageblatt Au«. — Fernsprecher Für unverlangt ringesandt« Manuskript« kann Gewähr nicht geleistet werden. Verantwortlicher Redakteur: 7kt» llmdeifi. Für die Inserate verantwortlich W-Uttk llkitt». Beide in Au« i. Erzgeb. Druck und Verlag: Nut, vn,». U v«tt,,tgtltNs»«N m. b. H. in Au« i. Lrzgeb. Bezog,preis: Durch unser« Boten frei in, Hao, monatlich so pfg. Bei der Geschäftsstelle abgeholt monatlich qa^Öfg. und wdchentlich pfg. — Bei der Post bestellt und selbst abgeholt vi«rteyahrlich«t.»o Mk. — Durch »eu Briefträger frei in» Kau, vierteljährlich ,.,r Mk. — Lin,«ln« Nummer ,o»pfg. — Deutscher postzeitung^ katalog. — Erscheint täglich in den Mittagsstunden, mit Ausnahme von Sonn» und Feiertagen. I«m bi, spätestens Uhr vormittag,. Für Aufnahme von < kann nur dann gebürgt werden, wenn fi« am Tag« vorher t Raum ,0 pfg., R«klam«n rs pfg. Vri gräßer«n Aufträgen rntsxr«chend«r Rabatt. Mutmaßlich« Witterung am ». Juli: Südwestwind, ver änderlich« Bevölkung, wärmer, kein erheblicher Niederschlag. -MU Die japanische Regierung öffnete Port Arthur als internationalen Hafen für Handels- und Kriegsschiffe aller Nationen. Spaniens Emanzipationskampf. 2:: Der kirchenpolitische Kampf in Spanien wird auf deut scher Seite mit warmem Interesse verfolgt. Wo irgend das Ge schlecht nach Freiheit ringt, da findet e,s deutsche Sympathien, Nach Kabtlmeldungen aus Tokio soll zwischen Japan und China ein sehr bemerkenswerter Staats vertrag abgeschlossen worden sein. Angesichts de; Scheiterns des Boykotts gegen Griechen- ' land bereitet die Pforte em Monopol für den Küsten- handel vor. Dieses Monopol wäre gleichbedeutend mit der Vernichtung dcS griechischen Kauffahrtei. »lese v«»»«' «»faßt ir Zeiirn Außerdem liegt das achtseitige illustrierte SonntagSblatt bei. Die Hymne der Brüderlichkeit. Von Louis FrSdöric Sauvage. Autorisierte Uebersetzung von Sutti Alsen. Das Wichtigste vom Tage. Nationallib eral e und Fre i si n n i ge im 20. und 21. städtischen Wahlkreis haben stir die Reichstags wahlen ein Kompromiß abgeschlossen, (S. Tel.) (Nachdruck verboten.) Ich habe es wirklich nie begriffen, welch' seltsamer Gedanke i den berühmten Kapellmeister Hans Hermann dazu treiben konnte, 1 in einem der ärmsten Viertel Londons am Abend des ersten H?Mai ein Konzert zu geben. An diesem vielsagenden Datum soll- ten blutige Aufstände die Stadt in Aufruhr versetzen, und die Ankündigung eines Konzertes unter derartigen Umständen war wohl dazu angetan, Ueberraschung hervorzurufen. Hans Her mann machte unter Zuhilfenahme zahlreicher Anschlagzettel be kannt, daß er seine Versammlung im Oratorium gerade am Ein gang von Whitechapel, dem Stadtteil der Elenden, abhalten würde, und der hohe Preis der Plätze konnte nur den wohlhaben den Leuten zusagen. Bei einigem Nachdenken erblickte ich darin Herausforderung, einen den Armen hingeworfenen Fehdehand schuh. Aus diesem Grunde hob ich ihn vermittelst der Summe einer Krone auf. Ich bin Anarchist. Weshalb? Es wäre zu weitgehend, Ihnen hierauf zu antworten. Ich habe keinesfalls den Wunsch, jemand von der Richtigkeit meiner Ideen zu überzeugen; es genügt mir, daß ich sie für notwendig halte. Ich sage: ich bi n — und müßte diHen Umstand eher in der Vergangenheit anfllhren. Ich war also Anarchist. Ass Europäer, und in meiner Ohnmacht das Böse, das ich neben mir den Sieg davon tragen sah, zu bekäm pfen, erschienen alle Mittel mir recht, den Kampf zu entfachen, «ich ich war dazu entschlossen, wenn es nötig wäre, selbst um den Preis meines Lebens, ein Beispiel zu geben. Ich verfertigte also eine Bombe, eines dieser praktischen und unauffälligen Werk zeuge, di« man in seine Tasche stecken kann und die bei passender Gelegenheit imstande sind, eine nützliche Tat zu vollführen. Dann wählte ich da» Oratorium zum Schauplatz meiner Heldentat. Der erste Mat verstrich ohne Unruhen. Einige Arbeitslose versuchten wohl, dap Viertel de» Zentrum» zu erreichen. Aber ff di« wachsame Polizei zerstreute sie mühelos. Die Eingeschüchter ten hatten sich vergebens auf» Land zurückgezogen, die Einsiedler Frau von Schoenebeck-Weber ist gestern in dis Pr 0- vinzial-Jrrenanstait ü berführt worden; sie hatte vorher einen Selbstmordversuch gemacht. (S. Gericht i. 1. Big. Der König von Dänemark hat di- angebo'ene Demission des Gesamtkabinetts angenommen. Das Befinden der Königin Elisabeth von Rumä nien ist beinahe hoffnungslos. (S. Tel.) denn man kennt bei uns die Notwendigkeiten dieses Ringens aus der eigenen Freiheitsnot. Die spanische Negierung, die nunmehr den Kampf gegen den Klerus übernommen hat, führt ihn zunächst lediglich vom Standpunkte der Staatsautorität, die sich selbst und das allgemeine Wohl gefährdet sieht. Zunächst verlangt sie Ver minderung der Klöster, deren Zahl selbst die Bestimmungen des Konkordats wesentlich überschreitet; ferner verlangt sie Aufheb ung aller Orden bis auf drei, wie das Konkordat es festsetzt; als dann aber auch nimmt sie für sich ein Aufsichtsrecht beschränkten Umfanges über die Mitgliedschaft der Orden und deren Geschäfts gebaren in Anspruch. Schließlich ist auch allen nichtkatholischen Religionsgemeinden eine freilich stark verklausulierte Toleranz zugesichert worden. Der Erzbischof von Toledo hat von seinem Standpunkte aus ganz recht gehabt, die Maßnahmen der Regierung als eine grund sätzliche Kampfansage aufzufassen. Spanien ist das einzige Land in der katholischen Welt, wo die geistliche Macht einen völlig unbegrenzten Einfluß auf die staatliche Macht ausübt; Spanien ist die letzte weltliche Hochburg der Klerisei. Es geht demnach um eine Entscheidung von weltgeschichtlicher Bedeu tung; das Ende d^s Kampfes wird nicht allein von der Energie der Regierung, sondern mehr noch -vom Volke selber abhängen, den» die Geschichte lehrt ,daß die geistlichen Mächte gerade in dem spanischen Volkstum die stärksten Wurzeln der Kraft gefunden haben, selbst dann, wenn die Regierenden ernstlich bestrebt waren, eine reinliche Scheidung Wischen staatlichen und kirchlichen Befug nissen zu schaffen. Daß an dem rapiden wirtschaftlichen und poli tischen Verfall Spaniens die Uebermacht des Klerus im Lande nicht am letzten Ende die Schuld trägt, ist bekannt. Es hat nicht an Versuchen gefehlt, den Niedergang des Landes aufzuhalten, und alle diese Versuche gingen von den spanischen Bourbonen aus, sowie ihren Ministern, die teilweise aus dem Auslande her beigeholt waren, da es in Spanien nicht einen einzigen Mann von Talent mehr gab. Um die Mitt« Les 18. Jahrhunderts war es zumal Karl 111., der das Land zu einer vorübergehenden Blüte brachte, Industrien wieder herstellte, Wege und Kanäle baute, Rechtsinstitute schuf und den ewigen Plünderungen der Seeräuber durch Verträge mit Fez und Marokko ein Ende machte. Er be seitigte die Inquisition und wies die Jesuiten aus dem Lande,, beschränkte die Zahl der Orden und übergab den Unterricht an weltliche Schulen. Der Vorteil des Landes war so augenschein lich, daß Karl III. eine starke Liebe im Volke gewann, aber die Liebe zum Klerus war größer. Obwohl die Berberschiffe nicht mehr jährlich 26—30 600 sanier in die Sklaverei entführten. bat das Volk um die Aufhebung des Vertrages mit den Ungläu- Ligen, weil die Geistlichkeit es lehrte, daß ein solcher Vertrag wider Gottes Gvbot sei. Weil nicht mehr Tausende auf den Holz, stoßen der hl. Inquisition verbrannten, fürchtete Las Volk, wegen seines geminderten Eifers wider die Ketzer von Gott bestraft zu werden. Als 1765, am Tage de,s heiligen Carolus, der König auf dem Balkon seines Schlosses erschien, um, wie es landesüblich war, dem versammelten Volke von Madrid eine Bitte zu gewäh ren, da prallte er entsetzt zurück, als wie aus einem Munde die Bitte erscholl, die Jesuiten möchten zurückkehren dürfen, damit Spanien seine Augen an dem Anblick dieser heiligen Männer weiden könne. So ist es bisher allen aufgeklärten Regenten und Staats männern in Spanien ergangen, nahezu bis in unsere Zeit, die freilich nicht reich an aufgriklärten spanischen Staatsmännern war. Immer wieder fiel das Volk in den alten Aberglauben zurück. Viermal wurde die Inquisition unterdrückt, vier mal verlangte das Volk sie zurück. Dreimal wurden allein in diesem Jahrhundert die Orden aufgehoben, dreimal wurden sie durch das empörte Volk wiederhergestellt. Die Ge schichte Spaniens bietet ein lehrreiches Beispiel dafür, daß man eingewurzelte Volksmeinungen und Bolksneigungen nichtdurch Gesetze, sondern einzig durch Belehrung und Unter- . richt ändern kann. Aber in Spanien ist der Unterricht mit Ausnahme gan, kurzer Perioden stets in der Gewalt dc« Klerus t gewesen, der nicht geneigt sein kann, «ine Belehrung zu gewäh ren, die sich gegen ihn selber richtet. So sehr man die Aufrichtig- keit, den Mut und die Selbstlosigkeit der spanischen Reformer ehre» kann, so sehr muß man ihre Kurzsichtigkeit beklagen, die sie dazu verführte, Gewalt gegen den Werglauben zu gebrauchen, ehe die Fundamente dieses Werglaubens erschüttere waren. Die Hoffnungen des gegenwärtigen Kampfes um die Emanzipation des Staates von der Kirche beruhen darauf, daß in die starre Masse am äußersten Ende des europäischen Festlandes von außen her intellektuelle Kräfte genug hineingekomin n sind, um den mittelalterlichen Geist zu untergraben. Die bescheidene» Ziele, die sich einstweilen die spanische Regierung gesetzt hat, mögen dem modernen spanischen Nationalgeist allenfalls faßlich sei». Dazu kommt, Laß jetzt immerhin einige politische Organisationen be stehen, deren belehrend« Arbeit nicht ganz nutzlos gewesen sein kann, deren Macht nicht ganz unbeachtlich ist, und deren politische Selbstzucht lobenswert zu sein scheint, da selbst die radikalen Ver bände sich auf die Seite der sonst stark befehdeten Regierung stellen. , .