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Vor Weihnachten hatte Agnes ihre Mutter häufiger be sucht und war oft den ganzen Nachmittag dort geblieben, atends aber hatte ihr Mann sie abgeholt. Wenn er sie ge- sragt hatte, wie sie denn in der Schiebgasse die Stunden zu- >ebracht hätten, war ihm meist eine recht unbestimmte Ant- ivvrt ««worden. Aber am Heiligen Abend sah er's: sie war recht fleißig gewesen an all den Nachmittagen, sie hatte ge- stickt, gehäkelt, aus Bast gestochten, was zu seiner Bequem lichkeit oder zum Schmuck feiner Arbeitsstube dient«. An den letzten Wenden hatten sie zusammen den Chriswaum- schmuck hergestellt: Sterne, Ketten und Backwerk. Agnes ließ es sich auch nicht nehmen, die zwei von einem nach Weißenstädt eingepsarrten Rittergut gestifteten prachtvollen Lozuen in Sankt Marien aufzustellen und mit Lichtern zu Gestecken; der alte Kirchvater durste ihr nur Hilfe leisten. Was wurde es für eine schöne, stimmungsvolle Christmette l Danach die Feier im Parrhaus! Wie hatten die beiden Menschen sich zu überraschen und zu erfreuen verstanden! Mm jubelten sie wie Kinder und sangen. Es war «ine Har- nwnie in «em, was sie taten, wie sie nur die reine Liebe schaM Die beiden Mütter waren zu Gaste und labten sich an» Mück ihrer Kinder. Pfarrer Böhm bedeutete dies Fest noch mehr. Davon ahnten die Frauen niesfis. Er sah, daß die Vergangenheit nun wirtlich tot war für Agnes, daß nichts mehr zwischen ihr und ihm stand. Denn so schnell hatte er jene Bedräng nisse niO abgetan, immer, wenn er das geringste Anzeichen «n Unwohlbefinden oder Mißlaune an seinem Weibe wahr nah«^ «riet er in Sorgte. Run aber, nach diesem wunder- «Wen Weihnachtsfeste gab es keine Gefahr mehr. Nein, tonnt« «s kein« mehr geben! * Achtes Kapitel. Allein, wenn wir uns sehend meinen, dann sind wir wohl erst recht blind. So ost cs uns „wie Schuppen vorn Auge fällt", werden wir betrogen. Wer wagt zu sagen, er Habe «in Menschenherz bis aus den Grund gekannt? Wer aber «n denen, die «s sich vermessen, steht nicht eines Tages wieder vor schwarzen Rätseln? Dieser Tag kommt. Und wenn «r wartet, bis jenes Menschenherz, das er wie einen Kristall zu durchschauen glaubte, seinen Schlag Hal verstuni- nw» laßen. Aber er kommt. Und er kam auch für Psarrer Böhm. Noch ahnte er ihn nicht. Nein, noch tiefer durfte er sich in die Gewißheit hinein wiegen, daß Lergangenheit Vergangenheit sei. Um die vstüzeit durfte er in sein Tagebuch schreiben: „Mein Weib und ich sind eins. Ein Leben, Sterben, Schaffell, Sorgen, Freuen. Und ein Hoffen! Ja, auch ein Hoffen, das süßeste «ich heiligste! Und so sind wir auch eins in unserem Beten. Was fein — lieber Gott, habe Dank für dies größte Men schenÄück!" So ähnlich faßte er sich auch in eine» Miefe an feine Mutter, die darob Freudentränen vergoß Wiederum verbrachte Agnes viele Stunden in der Schwßgafs« oder auch die Regicrungsrätin im Pastorat. Wiederum wurde emsig gearbeitet: diesmal bereiteten sie zierliche, kleine Wäsche. Ost, wenn Agnes so ein Hemdchen oder Jäckchen vor sich hingehalten und sich darüber gefreut hatte, wurde sie von ihwm starken Gesühl übermannt, das Kinderwäschestück in der Hand, ging sie zu ihrem Mann und umarmte und küßte ihn. In dieser Zeit war Böhm doppelt schonsam und nach sichtig gegen sie. Ost wechselte ohne sichtbaren Grund ihre Leu»«. Cs geschah auch, daß sie seine Zärtlichkeit nicht »wchte, dann lenkte er ihre Aufmerksamkeit auf nüchterne Geßhüftsfragen, oder sie gingen ein Stück hinaus aufs Land mm bestaunten da» mächtige Wirken der Lebenskräfte in der Natur. Zuweilen konnte sie aber nicht genug haben von feinen Liebkosungen. Böhm wurde von ihrem seltsamen Wesen nicht beunruhigt, er wußte es sich zu erklären. Und wirklich stellten sich di« Stimmungsumschläge bei Agnes im mer ftttener «in. Wo der Frühling endlich aus d«r ganzen Linie gesiegt hott», als es im Pfarrgarten, unten am Flüßchen, in Felo aaA Wald grünte, blüHe und jubilierte, da waren Bichms Meist draußen. Noch «ar Fra« Agnes' Zustand nicht jedem W«e erkennbar, nur die Frauen ahnten etwas und gaben « stüstemd der Nachbarin «eiter. Die verstauben auch das Lächeln in Agnes' Gesicht: das selig« Warten auf da» große Glück, das ihr die» Jahr noch bescheren sollte. Oft mußte der Pfarrer Frau und Schwiegermutter Mein hinausspazieren lassen. Es gab jetzt viel Arbeit für ihn, zu Haus und im Rathaus; denn er half das große, be deutsame Fest vorbereiten, das Weißenstadt Anfang Juni begehen wollte. Zu dieser Zeit vollendeten sich siebenhun dert Jahre, seit auf das Geheiß eines gnädigen LandeshSrrn der Pflug die Furche zog, die die Grenze der zu gründenden Stadt angeben sollte. Ein Fest wollte man feiern, wie da», lebende Geschlecht es hier nie gesehen. Die alten, verstaub ten Schriften in den Räumen des Rathauses waren mit Eifer studiert, und mancherlei daraus war der Bürgerschaft in dem „Weißenstädter Allgemeinen Anzeiger für Stadt und. Land" bereits dargeboten worden, damit sie Sinn und Be deutung des künftigen Festes recht begreife. Ein Kreis von Männern beriet, plante, warb, auf daß die Feier die Heimi schen und di« Kinder der Stadt, die man als Gäste aus allen Gegenden des Landes erwartete, befriedige und mit Stolz erfülle. Als an den Herrn Pfarrer die Bitte erging, am großen Werke mitzuhelfen, sagte er gern zu. Und seine Frau freute sich darüber, sie war stolz, daß ihr Mann beim Feste mit in den Vordergrund treten sollte. Glanz, der auch auf sie überstrahlte! Als er eines Abends spät von einer Ausfchußsitzung heimkehrte, ging er viel leiser als sonst, klinkte behutsam jede Tür und legte sich ganz geräuschlos zu Bett. Agnes durfte ja nicht wach werden. Sie könnte ihn fragen, was sie heute beschlossen, oder sonst irgend etwas, und ihn veranlassen, ihr das Neue sogleich anzuvertrauen. Er muhte es aber doch erst durchdenken, sich vorbereiten. Nettinger würde zum Fest erscheinen! Er war natürlich als Ehrengast eingeladeu worden. Und zwar war es nicht nur eine Anstandspflicht, deren man sich entledigte, sondern die Weißenstädter hatten, wie sich bei der Besprechung über die Ladung von Ehrengästen zeigte, den herzlichen Wunsch, ja eine starke Sehnsucht, ihren früheren Pfarrer wieder einmal unter sich zu sehen. Böhm achtete diese Gefühle, und er hatte dem freundlichen Schrei ben zugestimmt. Allerdings hatte er im Stillen erwartet, daß Nettinger, eingedenk seines Verhältnisses zu Agnes, sich genötigt sehen werde, Gründe vorzuschützen, die sein Kom men unmöglich «scheinen ließen. Heute abend nun war Nettingers Antwort verlesen worden. Er dankte für die in der Einladung zum Ausdruck gebrachten Gefühle der An hänglichkeit der Treue und versicherte, daß er sein Verspre chen, seine lieben Weißenstadter einmal zu besuchen, nicht vergessen habe. Bis jetzt sei es ihm nicht möglich gewesen, zum Feste aber werde er unbedingt kommen. Er freue sich herzlich darauf! Böhm war überrascht. Nun er aber still darüber nach dachte, sah er in der Tatsache, daß Nettinger nach Weißen- städt kommen wollt«, ein gutes Zeichen. Der fürchtet« also eine Begegnung mit Agnes nicht. Nun gut, so hatte auch sie sie nicht zu fürchten. Sie standen sich dann also wie zwei gegenüber, die sich von früher wohl kennen, aber sonst nichts airgehen: es war Abschied genommen. Ja, so waren sicher auch Nettingers Worte zu verstehen, daß es ihn: bis jetzt nicht möglich gewesen war, sein Versprechen einzulösen, wohl aber nun, sollte doch wohl heißen: nun, nachdem Agnes Frau Psarrer Böhm geworden war und sich von ihm gelöst batte. Vor einem halben Jahre hätte eine solche Begegnung allerdings nicht kommen dürfen, damals hätte sie Agnes in größte Gefahr gebracht. Nun aber konnte sie Nettingcrn io srei wie jedem anderen ins Auge sehen, kein Vorwurf konnte in ihr laut werden: es war Abschied genommen. Böhm fragte sich, ob er seiner Frau die Neuigkeit sagen sollte. Er wollte es tun. Wenn sie mworbereitet war, konnte sie wieder und vielleicht noch heftiger als damals er schrecken, und das mußte bei ihrem jetzigen Zustande ver hütet werden. Noch etwas sprach dafür: falls Agnes doch «in Wiedersehen vermeiden wollte, dos ihr peinliche Ver legenheit und Unruhe bereiten könnte, so hatte sie die Mög lichkeit, vorher zu seiner Mutter zu reisen. So! Er war zu einem klaren Schlüße gelangt. Darüber war es Mitternacht geworden, aber nun schlief er um so schneller ein. Beim Morgenkaffee erzählte er von der Arbeit im Aus schuß, vielerlei wichtige» und ^mvichtiges. Mitten hinein