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»r lief bewegt. Man kas es ihm vom Gesicht ab, daß er ßch gegen weiche Gefühle wehrte. Langsam erhob er sich, und langsamer als als es sonst seine Art war, begann er zu hwechen: - „Meine lieben Freunde! Das ist zuviel, was mir da geschehen ist! Rein, ich habe nicht alles erfüllt, was meine Wicht gewesen wäre. Ost genug habe ich meine Schwäche «kennen müssen. Aber gewollt habe ich es. Am Herzen gelegen hat mir mein Seelsorgeramt. Ich liebe es, und ich halt« es für das vornehmste und würdigste Amt, das einer bekleiden darf! Soweit stimmt es. Und auch das andere will ich mir gefallen lassen: daß ich als Geistlicher ein natür licher, gesunder und froher Mensch geblieben bin, was lei der ein seltenes Phänomen ist! Vor geistlichem Dünkel, pfäffischer Enge und Strenge hab' ich mich bewahr: und fürchte auch nicht, ihnen je zu verfallen. Freilich ist auch das kein besonderes Verdienst. Ich bin aus gesundem, bäuer lichem Geschlechte gekommen, ein Handwerker war mein Vater, eine Bauerntochter meine Mutter. Sie waren mit Armut an irdischen Gütern und mit einem mutigen Herzen gesegnet. Gesegnet! sag' ich. Und ich habe mit ihnen und meinen Geschwistern darben, ringen, arbeiten, und als es gut ging, mit ihnen fröhlich sein dürfen. Ich bin aus Schule gekommen und zuerst kein guter Schüler gewesen, da ich jeden Meisenpfiff von draußen hörte, nicht über jedes Wort vom Katheder her. Dann ist mir aber meine Mutier ge storben, und noh in ihrer letzten Stunde hat sie mich ge beten, fleißig und brav zu sein und ein frommer Mann zu werden. Und weil ich sie so lieb hatte, versprach ick es ihr und habe mein Versprechen auch gehalten, so gut ich ver mochte. Ich lernte entsagen, das Beste in nur selbst suchen; denn ich wurde nicht von Freunden umworben. Als aber alles gut ging und ich d».n Frohsinn meiner Kindheit wieder- fand, da hatte ich auch Freunde. Mir ihnen habe ich Ent täuschungen erlebt, aber auch Glück, sie haben mir geholfen und ich ihnen. Frei und fröhlich bin ich in den Ferien ge wandert, habe das Land gesehen, und keiner Freude, die sich mir bot, bin ich aus dem Wege gegangen. So hatte ich mich jung und frisch erhalten. Das habe ich gleich in meiner Vikartätigkeir als ein Glück empfunden. Und nun sehe ich, daß cs auch im kleinen, lieben Weißenstadt eine starke Stütze meines Amtes gewesen ist. Laßt mich nicht weiter von diesen sieben Jahren reden! Sie waren schön und reich, reich an Arbeit und Erfahrungen und auch reich an Freuds. Wie sollt' ich da euer vergessen können. Mit Dankbarkeit will ich der sieben Jahre und die ser Stadt gedenken, und ich will wohl auch manches Mal zu euch zurückkehren als zu meinen alten, treuen Freunden! Und auf die Hoffnung, daß wir uns daun alle gesund und fröhlich zusammensinden, laßt uns anstoßen!" Nun klangen die Gläser. Nun klang auch wwder die lachende Freude. Mütterchens Reisauflauf und Süßigkei ten verschwanden rasch. Dann gab es noch Butler. Brot u. Käse, damit der Magen gefeit sei gegen die fuukeiäugigen Geister in den Gläsern. Pastor Nerüuger hatte immer einen edlen Tropfen im Keller gehabt. Was für Weißenstadt be stimmt war, sollte auch in Weißenstadt genosten werden, mit sortnehmen wollte er nichts. Mütterchen war in der Küche. Manchmal dachte sie: „Es ist doch gut daß sie im Hinteren Zimmer sind! Na, soll er nur fröhlich sein! Schl er nur! — Ein guter Mensch ist er! Wie wird's ihm nun dort ergehen in der großen stadi? Man weiß, wie es viele Wirtschafterinnen mamen! -lud er ist wie ein großes Kind! Ja, manche werden so rasch reich, und wenn sie heiraten, so ist alles da, oft auch viel für den Mann! Möchte er nicht so einer Person in die Hände fallen!" Frau Grund war Nctringeru nicht bloß Wirtschafterin gewesen, sie hatte für ihn gesorgt, wie es seine Mutter nicht besser gekonnt hätte, und weil er das allenrhalben fühlte, nannte er sie ja auch „Mütterchen". Darüber war sie sehr glücklich. Aber nun? Sie würde schon wieder ihre Auf gaben finden, vielleicht konnte sie sogar hierbleiben, uni für den neuen Pastor, wenn er in junger Mann war, zu sor gen. Aber Nettinger? Da war sie gar traurig; denn die Welt ist doch so schlecht! Wie sie am schmalen Küchentische mit so traurigen Ge- -aitken saß, schlug die Glocke von Sankt Marien zwölf. Drüben lachten und redeten sie und hörten es nicht. „Nur gut, daß sie hinten hinaus sind!" sagte sie wieder. Dann wusch sie das Geschirr weiter aus, damit nicht morgen noch alles voll stände, das konnte sie nicht leiden. Rief cs nicht? Sie beugte sich zum Fenster hinaus. Im Lichtschein« stand ein Mädchen. Das sprach herauf. „Wie? — Jst's möglich? — Sie, Fräulein Hallweg?* Das Mädchen wollte eingelassen sein. „Ja, ich komme." Auf dem Vorsaalc blieb Frau Grund einen Augenblick: ja, die Männer hatten ihre Unterhaltung, es kam wohl jetzt keiner heraus. Da ging sie flink die Treppe hinab. * lieber das holperige Pflaster, an Sankt Marien vor bei, gingen mit schweren Schritten die Kirchenräte. Pastor Nettinger stand noch vor der Gartentür. Die Gestalten waren bald im Dunkel verschwunden, nur ihr schweres Trap sen hörte er noch, und den leisen Trippelschritt des Herrn Stilte konnte er unterscheiden. Dann vernahm er ein bei nahe nur gelalltes „Gute Nacht!", Gcrbermeister Toll ging ab. Dann fand sich der Schall aus den Winkelgassen nicht mehr bis ins Pastorat zurück. Ganz stumm wurde es. Nettinger atmete rief die frische Luft, sie tat ihm wohl. Er hätte jetzt eine Nachtwanderung antreten mögen, denn er würde nicht schlafen können, eine Unruhe mar in ihm. Sie rührte nichi nur von der lebhaften Unterhaltung, vom Essen und vom Weine her, auch nicht vom Anlaß dieses klei nen Festes. Nein, was ganz anderes würde ihn nicht schla fen lassen. Wenn er wanderte, so schritte er fest und frisch über den Markt durch die Schießgasse, dort wollte er den Stock auf die Pflasterbuckel setzen, daß alle Fenster ausflü- gen; und wenn Agnes neugierig herausschaute, so wollte er ihr, trotz der unhcilmitternden „Regierungsrätin" im Neben fenster und der spähenden Nachbarn, einen lauten, lieben Gruß zurufen! Ja, er wollte sich vor Weißenstädt zu ihr bekennen! Wenn er jetzt wanderte — Ach, es war zwecklos, sich auszumaien, was man doch nicht unternahm! Er hob das Auge empor. Da, in demsel ben Augenblick, ein kurzes, weißes Schweifen durch die fun kelnde Menge. „Ja!" sagte Nettinger laut in die Stille und atmete hoch auf; denn er war abergläubisch, wie alle Lieben den, und hielt die Sternschnuppen für eine Verheißung. Er nickte dankbar hinauf, dann schloß er die Pforte und ging langsam ins Haus. Mütterchen erwartete ihn oben an der Treppe. Es sei noch jemand da, flüsterte sie ihm zu. Er suchte aus ihrem Gesicht zu lesen, ob sie es scherzhaft oder ernsthaft meine. Aber es verriet nicht das geringste. lind statt jeder weiteren Auskunft öffnete sie ihm die Tür zum »Speisezimmer und ging davon. Da hielt er Agnes schon in den Armen. Sie legte den Kopf an feine breite Brust und zitierte am ganzen Körper. Noch ehe er aber seine Verwunderung über ihren nächtlichen Besuch oder eine Frage nach dem Grunde ihrer Erregung aussprcchen konnte, löste sie sich wieder von ihm: „Nein, wir haben keine-Zeit, Karl! Ich will dich biltten, daß du von deinem Besuch abfichst! Wir haben uns das letzte Mai jetzt!" Nettinger maß das Mädchen mit einem langen Blick. Was sollte das heißen? Entsagen? Ihr nächtliches Kom men, ihr Händedruck und Kuß, der Ton ihrer Stimme, der heiße Glanz ihrer Augen künden nichts als Liebe, und dabei sollte sie entsagen wollen? „Hai dich deine Mutter gequält?" fragte er mit müh sam gewährter Ruhe. „Nein, sie will mir alle Quai ersparen und morgen mit mir verreisen. Nach Halle, zu einem Onkel. Du weißt, ich habe dir von ihm erzählt. Derselbe, der meiner Mutter so kräftig die Wahrheit gesagt Hal. Der uns auch nie mehr zu Besuch geladen hat. Aber er wohnt weit weg, darum scheint's ihr gut, den Streit mit ihm zu vergessen. Sie ahnr, daß du vor deinem Weggang noch einmal zu uns kommen willst. Und das verhindert sie." „So, so!" sagte Nettinger langsam mch blickte nachden kend vor sich hin. „Wann reist ihr?" Da lachte Agnes bitter. „Wenn ich das erführe! — Aber wenn auch. Es nützt nichts, Karl! Du würdest um sonst anklopfen. Und kämst du doch ins Haus, so wär's ver lorene Zeit und Mühe. Darum bitte ich dich, Karl, laß es, versuch es nicht erst!" „Lassen? Nein!" jagte Nettinger fest. Er reckte sich, daß er neben der seinen Miidchcngestalt wie eine Riese stand.