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Nr. 23S. Dienstag, 14. Oktober 1913. 8. Jahrgang. Diese Nummer umfaßt 8 Seiten. Das Wichtigste vom Tage. Der bayrische Gesandt« in Berlin, Gras Hugo Lerchenfeld, feiert seinen 70. Geburtstag. Der Prinzregent sandte ein herzliches Handschrei ben, der Kaiser und zahlreiche BundeSftirsten schickten Telegramm«.*) * Bet seinem hrigen Beuch' ^ä't ^er deu' sche rotestanten.Verein e>mn Proie stantentag in Berlin ab. * Beim Radrennen im deutschen Stadion fand ein Massensturz statt, der den Tod deo elma^... Radfahrers Hansen zur Folge hatte. * Zum Vorsitzenden der Ansiedlungs-Kom mission ist Geheimrat Ganse er. anut woroe.. * Die bayrische Negierung nimmt in einem Artik. der bayrischen StaatSzeitung zu der Königc frage Stellung.*) Die Ratifikationen d«S türkisch-bulgarische, FrtedenSvertrageS sind gestern auSgewea,- selt worden. »1 riHhere» <>«h« an and«»» Gtlll«. )ceMeutsche Jugenä. Eine Jahrhundertfeier ganz « gener Ar, ist in diesen Tagen auf dem Hohen Meißner vor sich gegangen. Dort hat sich mit Wettkämpfen, volkstüm lichen Spielen und Volkstänzen, einem großen brennen den Holzstoß und einer Feuerrede, einer Festrede von Traub und einer Freilichtaufführung der Iphigenie die Fretdeutsche Jugend in ihrer Weise der großen Zeit vor hundert Jahren erinnert und im Geiste dieser Erinnerung eine Kundgebung für ihre modernen frei, deutschen Bestrebungen veranstaltet. Etwa ein Dutzend Bünde hatten sich, zu diesem Zwecke zusammengetan, darunter der Jung-Wandervogel, der Bund für freie Schulgemeinden, der Bund für abstinente Studenten, die deutsche akademische Freischar, der Bortruppbund u. a. Die Oeffentlichkeit hat sich bisher Wenig um die Absichten dieser Jugendverein« gekümmert. Am mei sten haben von ihnen bisher der Wandervogel und der Bund für freie Gchulgemeiden von sich reden gemacht, di« auch di« meiste Eigenart besitzen und der Veranstaltung auf dem Hohen Meißner ihr eigent liches Gepräge gaben. Biel Verständnis hat sich freilich auch für sie nicht gefunden. Da» bemüht aber nicht Wunder zu nehmen. Die neue Jugendbewegung, die in ihnen am deutlichsten zum Ausdruck kommt, ist nicht Stromer in äer Levante. tNai-druck ) Sie werden verzeihen, aber ich höre, daß die Herren Deutsche sind, und da wollte ich Sie bitten —< ich habe heute ke.n Schlafgeld! — Die Herren werden einem armen Landsmann doch gewiß mit 'ner Kleinigkeit unter die Arme greifen. . .. Das ist so das stereotype Sprüchlein, das man in den Hafenstädten der Levante ost genug zu hören be kommt. Ist man schon ein Eingesessener, so gibt man dem Landsmann eine kleine Münze und geht weiter. Fremde kommen gewöhnlich nicht so billig weg. Sie lassen fich von dem armen, nach der Türkei verschlagenen Landsmann in der Rege! rühren und opfern eine größere Münze. — Freilich wissen sie nicht, daß der Landsmann der großen Gilde der reisenden Bettler angehört, die als Zugvögel di« Küsten plätze des Mittelländischen Meeres abgrasen und je nach der Reisesaison in den verschiedenen Gebieten, bald da, bald dort anzutreffen find. Dem Leben und Treiben dieser Levante stromer ließen sich ganze Bände widmen, denn ihre Organi sation ist em« Spezialität für fich Gs fehlt ihnen auch nicht ein gewisser Zug in» Moderne, denn nur selten kommt es vor, daß einer aus Schusters Rappen nach gutem, altem Brauch auf der Straße von Stadt zu Stadt zieht, viel lieber besiegen sie al» blinde Passagiere einen Dampfer mit dem ihnen passenden Kurs, 'wenn sie auch Gefahr laufen, im näch sten Hafen der Polizei übergeben zu werden. Aber es fin den sich im schlimmsten Fall« fast stets mitleidig« Passagier«, die das Fahrgast» für den armen Teufel zusammensteuern und den Kapitän wieder besänftigen. Die Konsulate in den Lovantestädten wissen ein Lied von dieser -Sorte Reisenden zu fingen. Es vergeht fast kein Tag, an dem fie nicht den ve- such einiger von ihnen bekämen. Um Tricks, Unterstützungen zu erlangen, find diese Her ren übrigen« nie verlegen. Bieten ihnen doch di« steten Er- Wie so viele andere moderne Bewegungen von irgend einem literarischem Klüngel gemacht und mit Drucker schwärze aufgepäppelt worden, sondern sie ist von selbst entstanden, au» den Empfindungen der Jugend empor- getvachsen, ihre heutigen Führer haben sie nicht hervor gerufen, sondern entdeckt. Gustav Wtneken, der Gründer der freien Schulgemeinde in Wickersdorf, er zählt selbst, wie er einst ahnungslos als Lehrer in dem Landerziehungsheim von Dr. Lietz die Keime zu seiner freien Schulgemeinde in dem freien geselligen Leben >er Schüler von selbst entstanden seien, obgleich der Let- l'r der Anstalt scll'st gerade dafür keine Augen hatte ünd die Idee zum Wandervogel war längst in der Sehn sucht der städtischen Jugend nach einer Zurückeroberung der heimischen Natur, einer organischen Verbindung der neuen künftigen Generationen mit der der städti schen Bevölkerung größtenteils entfremdeten ländlichen Kultur lebendig, als der erste Wandervogel im Steg litzer Gymnasium unter Professor Ludwig Gur litt» Pfleg« flügge wurde. Man Wird der neuen Bewegung, die gewiß weder von Ueberfpannthetten frei, noch überhm'-F gegen «ine Entartung gefeit ist, am ehesten gerech. wenn man MH Li« Veränderungen vergegenwärtigt, die di« Um welt der Jugend in den letzten Jahrzehnten durchgemacht hat. Ursprünglich war di« Familie di« Welt der Kleinen. Innerhalb de» Hauses oder in dessen nächster Nachbarschaft vollzog sich der grüßt« Teil der Produk tion. Di« Jugend lernte die Eltern noch bei der Arbeit kennen und würde dadurch für da» künftig« Berufsleben vorbereitet. Und so Weit sich di« große Welt, da» Wirt schaftlich« und allgemein« kulturell« Leben nicht in der Familie und ihrer Umgebung wie der spiegelte, genügte Pi« Schul«, die Vorbereitung auf da» Leben zu voll enden. Heute bedeutet in den Städten auch für di« besseren Stände da» Hau» nur «ine Ruhestätte. Der Vater geht weitab von diesem stillen Winkel seinem Berufe nach unp die Mutter ost auch, oder sie hat jgasellschaftlich« Pflichten außer dem Haust wahpzuneh- men. Die Familie hat di« Fühlung mit dem großen Leben verloren. Kein Wunder, daß sich die Jugend ver nachlässigt und gelangweilt fühlt. Die Schule war bisher zu sehr ein« Lernanstalt, al» daß sie die alten Aufgaben der Familie, die Jugend unmittelbar in da» praktische Leben einzuführen, ohne weitere» hätte übernehmen können. Weil sich nun die Erwachsenen der Nöte der Jugend — zumal der städtischen Jugend — nicht an nahmen, so rührte sie sich selbst, und Ergebnisse Mer Initiative haben Wir heut« in dem Wandervogel und der steten Schulgemeinde Vor jun». Neue Formen jugend lichen Gemeinschaftslebens, durch di« die Jugend ihrem Wesen gemäß sich selbsttätig an da» Kulturleben der Gegenwart elnzugliedern sucht. ES ist abzuwarten, ob »t« Bünde, di« sich am 11. und 12. auf dem Hohen Meißner zusammenfanden, über ein zweckmäßige» Zu sammenwirken sich zu verständigen vermögen. St« haben sich stark genug geftihlt, die Kritik der öffentlichen Mei. elgnisse auf dem Balkan und in Kletnafien stet» überreichen Stoff, um mit Erfolg fechten zu können. Da WM einer bei einer Plünderung durch Komitadschi» oder räuberische Kur den um Hab und Gut gekommen sein, ein anderer wieder erzählt von dem großen Brand in der oder der Stadt, bei dem er alle» verloren hat, und ost gelingt «s ihnen, sogar die Konsulaisbeamten zu täuschen. Und erst di« Fremden! Aber auch Angesessene gehen ihnen, wenn fie ihre Sache ge schickt machen, auf den Leim, zumal fie oft eine amtliche Be scheinigung bet sich führen, die man gewöhnlich Acht lesen kann. Natürlich ist diese» amtliche Schriftstück gefälscht, wie oft auch der Paß, der zum eisernen Bestand eines jeden Le vantestromer» gehört. Wie geschickt diese Kunden zu operie ren verstehen, mag folgende Episode illustrieren. Kam da vor ein paar Jahren, wenig« Wochen nach dem letzten großen Armeniermassakre in Adana, ein älterer Mann Mit 'Midi, gem grauen Vollbart nach Saloniki. Der Reihe nach be suchte er die dort lebenden Deutschen, denen er sein Schick sal erzählt«. Gr sei in Adana Arzt gewesen, sei bei dem Massaker mit knapper Not dem Tode entgangen und habe nur das nackte Leben gerettet. Al» Luxemburger habe er keine Konsularvertretung im Orient, und so sei er aüf die privat« Hilfe der Deutschen angewiesen. Reichlich flössen dem Mann« die Spenden zu. Gin paar deutsche Herren sammelten sogar in ihrem Bekanntenkreis für ihn. Und der so schwy: Betroffene kam auch zu mir und erzählte mir feine Geschichte. Aber obwohl er fich große Mühe gab, fich möglichst gewählt auszudrücken, hatte ich dach schon nach fünf Minuten aus seiner Erzählung soviel Anklänge an di« Kun densprache herausgehört, daß ich mich nicht genug wundern konnte, wie es dem Menschen gelungen war, fast di« ganze deutsche Kolonie zu düpieren. Ich sagte dem Herrn Doktor denn auch auf den Kopf zu, daß «r «in Schwindler fei. Und nach einigen vergeblichen versuchen, den Enttäuschtem zu spielen, gab er schließlich zu, fich taxfrei das Doktordiplom numg herauszufvrdern; es muß sich jetzt zeigen, vv sie sich gegen sie, trotzdem ihren Bestrebungen noch so viel inner« Widersprüche und Unklarheiten anhasten, zu behaupten vermögen. Deutsche Dolksrvohlfahrt. (Von unserem Berliner - Mitarbeiter.) Das Jubiläum de» Katstr» hat «in« Meng« von literari schen Rückblicken gebracht, die dem deutschen Staatsbürger kla° machen wollen, wie herrlich weit wir'» im letzten Vier- leljahrhundert gebracht haben. Gut, daß wir das vor aller Welt zeigen können, und läuft dabei in manchen Schriften ein — sagen wir einmal: allzu jubiläumsfroher Ton unter, so braucht uns das nicht zu verstimmen angesichts der siche ren Tatsachen, die sich für unsere Fortschritte anführen las sen. Am besten hat sie Dr. H« lferich, der Direktor der Deutschen Wank, in dem Werke Soziale Kultur und Volks- wohlfahrr zusammengestellt. Der deutsche Michel, der stirer als armer Träumer und etwas beschränkter Bauer gatt, ist auf dem besten Wege, zum reichen Geschäftsmann« zu wer den oder Lesser, «r ist» eigentlich schon. Denn daß andere Staaten teilweise noch mehr haben, beweist ja dagegen nichts. Die Vereinigten Staaten werden auf V00 Milliarden geschätzt, dann kommt Deutschland mit 800 und dann erst England und Frankreich mit j« etwa Ai0 MWlliarden. Aus den Kops der Bevölkerung entfällt danach freilich in Deutschland von den genannten Lädnern immer noch am wenigsten, «eil unser« Volkszahl groß ist. England und Frankreich kommen zu S000 Mark pro Kops, die vereinigten Staaten zu övvO Mark, aber Deutschland doch auch schon zu ö000 Mark. Von selbst ist natürlich dieses Wachtum des deutschen Na tionalvermögen« nicht -«kommen; «s ist wst di« meisten Gewinn«, da» Ergebnis rMichen Fl« iß es. Di« Zahl der Erwerbstätigen ist seit 1882 von Prozent auf SS,7 Pro ¬ zent im Jahr« 1907 gestiegen ünd gehtjstzt sicherlich schon er- hebltch über dt« SV Prozent hinaus. Möglich war diese Per- mehrung der Erwerbstättgkett natürlich nur durch di« In dustrie, denn dt« Landwirtschaft hat trotz verbesserter Tech nik ein« ziemlich «ng« Grenz« ihrer Ausdehnung in der An- bausähigkeit de« vorhandenen Boden». Darüber mag viel«» zu klagen sein. Daß die Frauen so stark in da, Erwerbs leben mit hinetngszogen werden, daß heute 21 Prozent der Bevölkerung in GrMtädten engzusammengedrängt sind, statt früher S Prozent und so manche» ander«, das find gewiß keine sonderlich erfreulichen Erscheinungen. Aber wenn man auch die Schäden der raschen Jndustrieentwickelung bekämpft, so muh man sie im wesentlichen doch für glücklich -alten. Denn ohne sie würden wir wieder, wi« früher, Hunderttausende von Auswanderern über die Grenzen treiben. Trotz des Ge burtenrückganges wächst Deutschland dank de» gleichzeitigen Rückganges der Sterblichkeit nach wie vor um etwa 880 VVV Köpfe jährlich. Die könnten wir ohne unsere Industrie gar nicht ernähren und ohne st« wäre unsere stark« Rüstung und unsere fleißige Arbeit nicht denkbar. Das Durch schnitt s ei nkomm en pro Kopfbetrug 1VV8 in Deutsch land bereits mehr al» in Frankreich: nämlich 81ä, dort M verliehen und das Märchen von Adana ersonnen zu haben, um möglichst viel zu bekommen. Am nächsten Lag« hatte der Herr Doktor Saloniki verlassen. Sein Geschäftsgeist hatte ihm zu Anzügen, Wäsche und einem reichlichen Zehr pfennig verhalfen gehabt. * * * In fast allen größeren Hafenstädten der Levante haben diese Art Stromer ihre Herbergen, die zugleich Börsen find. Die Zentralbörse ist aber jedenfalls das Hotel Akropolis in dem berüchtigten Konstatinopler Hafenviertel Galata. Sen sible Nerven darf man nicht haben, wenn man fich in diese Spelunke wagt. Der langgestreckte, niedrige Raum ist aM Abend von «in paar alten Petroleumlampen spärlich «Hellt, in deren Licht der Dunst noch unangenehm« wirkt. Md in all dem Schmutz dies« Kneipe fitzen Abend für Abend an den ungedeckten Tischen die fragwürdigen Gäste, bunt zu sammengewürfelt, junge und alte. Karten spielen die einen, ander« flüstern miteinander, sorgsam darauf bedacht, daß kein unberufenes Ohr «in Wort auffangen möge, wieder andere verjubeln lärmend und singend die Tageseinnahm« in Bi« und Schnaps. Und zwischendurch werden Erlebnisse erzählt, großtuerisch und stolz, die den fechtenden Helden wo ander» als in d« Türkei hinter Schloß und Riegel gebracht hätten. Manch eigenartiges Gewerbe blüht dort auch. Da hat «in Kerl ein Patzbureau, d. h. er verkauft Reisepässe, di« teils echt, teil» geschickt korrigiert find. E» ist ein lukrative» Geschäft, weil jeder der Kunden stet» für «inen richtig gehen den Pah besorgt sein Muß, um fich gegebenenfalls unter den Schutz de« betreffenden ^msulat» stellen zu können, oder um Aufnahme in einem Hospital zu finden. Auch Adressen von Leuten ««den hi« verkauft, von Leuten, di« ein gute» Herz und eine offene Hand haben und noch nicht gewitzigt find. E, ist ein bunte» Gemisch im Hot«) Akropolis beisam men! Und welch «ine Verkommenheit, Brutalität, abge stumpfte Gleichgültigkeit, Laster, Derbrechen, Trunksucht —