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unverhohlenen Antipathie in einer gewissen Schuld der Musikgeschichte stehe. Dies lohnt sich nun, tiefer zu betrachten. Wenn auch eine Kunststelle, wie so ein großes Konzertinstitut die Verpflichtung hat, seinen Hörern einen Durchschnitt der jeweiligen Zeitspanne zu bieten, also eigentlich alles aufzuführen, so kann ihm doch nicht die Berechtigung abgesprochen werden, Zuneigungen und Abneigungen zu haben. Und von einer Nichtbeachtung etwa der Kompositionen von Liszt und Berlioz kann bei dem Leipziger Gewandhaus nicht die Rede sein, wie wohl die Programme bezeugen. Wie hat sich allein Robert Schumann für Berlioz bemüht! Der Sieg Richard Wagners kann hier nicht im ge ringsten in Frage kommen; Wagner scheidet aus. Seine Welt ist die Bühne, und ihm selbst war es nicht sympathisch, wenn sich etwas von Fragmenten seiner Musik dramen auf das Konzertpodium verirrte, da dies nicht als Pflege seiner Kunst an gesehen werden kann. Im Grunde stand eigentlich Wagner auch außerhalb dieses Kampfes. Er Heß ihn bloß gern zu seinen Gunsten ausfechten. Aber haben die anderen, die Liszt und Berlioz und ihre damals neutönerischen Zeit genossen wirklich gesiegt? Diese Frage beantworten wollen, heißt allerdings in ganz andere Gebiete weiter übergehen, als es der Rahmen dieser Betrachtung erlaubt. Das mag sich jeder für sich beantworten. Gewiß, die Namen Franz Liszt und Hector Berlioz bleiben der Musikgeschichte erhalten. Ob ihre Werke aber zu dem großen Schatz der Weltmusik oder gar der deutschen im besonderen gehören, ob sie wirklich leben, das ist die große Frage, die die Zeit entscheiden wird und eigentlich schon zum Teil entschieden hat. Ich halte jetzt und hier durchaus mit einem Werturteil zurück, lasse für die heutige Betrachtung dahingestellt sein, welche Musik wertvoller und beglückender sei, die der damaligen „Neudeutschen“ oder die von diesen be kämpfte traditionelle — sagen wir „Leipzigerische“. Aber das eine muß man als Tatsache zugeben: noch nie ist so anhaltend, ja erbittert, jahrzehntelang für eine Richtung gegen die Stimme des Publikums gekämpft worden, als für den Kompo nisten Liszt; in Zeitungen, Musikfesten, Broschüren, in Wort und Tat und Schrift, in Verhimmelung und in Vernichtung der Gegner. Und da drängt sich der Gedanke vor: Wieviel ist da wirklich Gutes verketzert, zurückgedrängt, verschüttet worden! Ich kann mir leicht die ganze Musikgeschichte von einem gewissen Zeitpunkt ab anders, natürlicher verlaufen vorstellen. Eine weitere Frage ist: wie war der Einfluß jener ganzen Richtung auf die fernere Entwicklung der Musik, war er heilsam oder nicht? Hat jener sogenannte Sieg, der in meinen Augen ein wirklicher Sieg nur Wagners war, nicht Geschlechter erzeugt, die den Umsturz an sich als Fortschritt ansahen? so daß, wenn früher die Frage der Beurteilung einer Musik lautete: „Ist sie schön“? sie nunmehr lautet: „Ist sie fort schrittlich“? Wurde nicht so lange fortgeschritten und umgestürzt, bis das ganze abendländische Musiksystem umgestürzt wurde, weil es sonst nichts mehr umzustürzen gab? Es genügt, diese Fragen bloß aufzuwerfen. Von dem Versuch ihrer Beant wortung soll hier nicht die Rede sein. Dagegen kann wohl hingewiesen werden auf die Berechtigung eines jeden Konser-