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das konservative Gewandhaus, das seine genios loci allzu sehr vor den Vertretern der neuen Richtung bevorzugte. Der Winter 1855/56 brachte die Abschaffung des bisherigen „persönlichen Abonne ments“, so daß nun erst, abgesehen vom freien Einzelverkauf, auch jeder Abonnent frei über seine Karte verfügen konnte. — Rietz verließ Leipzig 1860, um in Dresden Reissigers Hofkapellmeisterstelle zu übernehmen. Wie David, Gade und Rietz, so schritt auch Carl Reinecke, 1860 an das Gewand haus berufen, ganz auf den Bahnen Mendelssohns, wie als Komponist so auch als Dirigent. Ununterbrochen hat der bescheidene, feingebildete Künstler, den mancher der Anwesenden noch gekannt hat, 35 Jahre hindurch — eine Zeitspanne, auf die kein anderer Gewandhaus-Kapellmeister zurückblicken konnte — seine volle Kraft unserem Institut treu gewidmet. Treffend erscheint mir die Charakterisierung eines seiner Biographen, der seine, „der reinen musikalischen Schönheit zugewandte Kunstauffassung“ im Sinne Nietzsches als „apollinische“ bezeichnet, im Gegensatz zu einer „dionysischen“ anderer Künstler. Bei gewissenhafter Pflege der Klassiker und zumal der Romantiker kamen unter Reinecke von neuen Werken zur Erstaufführung solche von Volkmann, den beiden Lachner, Holstein, Götz, Raff, Grieg, Herzogenberg, Jadassohn, Dvorak, Bruch und anderen. Die wichtigsten Erstaufführungen waren die der Werke von Brahms, dessen fruchtbarste Schaffensperiode in Reineckes Kapellmeisterzeit fällt. Im Gewandhaus fand 1869 die erste Aufführung des Deutschen Requiems in seiner heutigen sieben- sätzigen Gestalt statt, ferner die Uraufführung des Violinkonzerts zu Neujahr 1879 durch Joachim unter Brahms’ Leitung. Auch seine vier Symphonien lernte man in Leipzig zum ersten Male unter Brahms’ eigener Leitung in den Gewandhaus-Konzerten kennen. Die Aufnahme war jedoch nicht von aufrichtiger Begeisterung getragen; war ja die Zeit für Brahms in Leipzig noch nicht gekommen. Die Programme be wegten sich im allgemeinen in den Grenzen, die den Abonnenten sympathisch waren und die von der Direktion zumeist gebilligt wurden. Weniger entsprachen sie dem Geschmack vieler fortschrittlicher gesinnter Musikfreunde und Berufsmusiker, die das Hauptkontingent der 1875 eingeführten öffentlichen Hauptproben bildeten. Seiner Überzeugung getreu trat Reinecke nicht für die neue Richtung ein, und so kam es, daß die Angriffe gegen die „Hochburg des Konservativismus“ immer heftiger wurden. Im Zusammenhang hiermit sei erinnert an das 1861 von Wendelin Weiß- heimer veranstaltete Extrakonzert im Gewandhaus, in dem Richard Wagner demon strativ gefeiert wurde und das von ihm selbst dirigierte Meistersingervorspiel wieder holen mußte. Aufführungen von Reineckes eigenen Werken gaben dem Publikum stets Anlaß, seiner Sympathie für den Komponisten und Dirigenten Ausdruck zu geben, zumal wenn er als Interpret eigener oder Mozartscher Werke am Klavier auftrat. Noch als 82 jähriger, nachdem er inzwischen sein Amt aufgegeben hatte, spielte er unter Nikisch, zusammen mit seinem einstigen Schüler Fritz von Bose, Mozarts Es-Dur-Konzert für zwei Klaviere und wurde stürmisch und begeistert gefeiert.