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VIERZEHNTES GEWANDHAUS-KONZERT DONNERSTAG, DEN 29. JANUAR 1925, 7 UHR Dirigent: in Vertretung von Wilhelm Furtwängler Professor Ernst Wendel ERSTER TEIL Visionen. Sechs symphonische Sätze für Orchester (Op. 12) von Hermann Hans Wetzler (geb. 1870). [Zum ersten Male.] I. Introduzione: Tempo giusto. II. Adagio con gran espressione. III. Scherzo demoniaco: Quasi presto. IV. Intermezzo ironico: Allegro vivace — V. Fugato: Allegro con brio e risoluto — VI. Risonanza estrema, Ausklang. Breit und sehr ausdrucksvoll. »Die Visionen sind Tonbilder, die, mit Ausnahme des Intermezzo ironico, geistige, dem Seelenleben entstammende Gesichte in musikalischer Gestaltung festhalten. In der Introduzione entwickelt sich aus den im Unterbewußtsein gärenden Kräften und Strömungen das in der Folge vorherrschende Thema des ringenden Geistes. Das Adagio trägt als Motto Michelangelos Sonett: Beschwert von Jahren, sündenvoll, beherrscht Von böser, eingewurzelter Gewohnheit, Seh’ ich den Tod in doppelter Gestalt Schon nah’ und nähre doch mit Gift mein Herz. Nicht eig’ne Kräfte seh’ ich, die genügten, Mir Leben, Liebe, Brauch und Trost zu ändern, Wenn Hilfe du nicht bietest, göttlich helle, Die Führer ist und Zaum auf irrem Wege. Mein teurer Herr! ’s ist nicht genug, die Sehnsucht Nach dort mir zu erwecken, wo die Seele Geschaffen wird aufs neu, wie einst aus Nichts, Nein! eh’ du sie des Sterblichen entkleidest, Verkürze mir die hohe, steile Straße, Daß mir gewiß die Heimkehr sei und lichter! Mittelpunkt des Scherzo demoniaco ist eine Gestalt aus Dantes Inferno: Charon, der Dämon mit den Glutaugen, der Fährmann auf den nächtigen Fluten des Acheron, der die Scharen der Seelen zur letzten Überfahrt ruft, der die Säumigen mit dem Ruder schlägt und zu Haufen treibt. Das Thema Charons ragt grell hervor aus den Ent setzensschreien der unübersehbaren Scharen verdammter Seelen; die dunklen Fluten wallen, der Sturm tobt, und im plötzlichen Erbeben der Erde bricht der Satz jäh ab gleich dem dritten Canto des Inferno.