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ACHTZEHNTES ABONNEMENT-KONZERT IM SAALE DES GEWANDHAUSES ZU LEIPZIG DONNERSTAG, DEN 23. FEBRUAR 1911. Leitung: Professor Arthur Nikisch. ERSTER TEIL. Gesang der Parzen von Goethe für sechsstimmigen Chor und Or chester (Op. 89) von J. Brahms. Es fürchte die Götter Das Menschengeschlecht! Sie halten die Herrschaft In ewigen Händen, Und können sie brauchen Wie’s ihnen gefällt. Der fürchte sie doppelt, Den je sie erheben! Auf Klippen und Wolken Sind Stühle bereitet Um goldene Tische. Erhebet ein Zwist sich, So stürzen die Gäste Geschmäht und geschändet In nächtliche Tiefen, Und harren vergebens, Im Finstern gebunden, Gerechten Gerichtes. Sie aber, sie bleiben In ewigen Festen An goldenen Tischen. Sie schreiten vom Berge Zu Bergen hinüber; Aus Schlünden der Tiefe Dampft ihnen der Atem Erstickter Titanen, Gleich Opfergerüchen, Ein leichtes Gewölke. Es wenden die Herrscher Ihr segnendes Auge Von ganzen Geschlechtern, Und meiden, im Enkel Die ehmals geliebten, Still redenden Züge Des Ahnherrn zu seh’n. So sangen die Parzen; Es horcht der Verbannte In nächtlichen Höhlen, Der Alte, die Lieder, Denkt Kinder und Enkel, Und schüttelt das Haupt. (Aus >Iphigenie auf Tauris*.) Orpheus. Symphonische Dichtung von F. Liszt. (Aus dem Vorwort.) Als wir vor einigen Jahren den Orpheus von Gluck einstudierten, konnten wir während der Proben unsere Phantasie nicht verhindern, von dem in seiner Ein fachheit ergreifenden Standpunkt des großen Meisters zu abstrahieren und sich jenem Orpheus zuzuwenden, dessen Name so majestätisch und voll Harmonie über den grotesken Mythen der Griechen schwebt. Es ward dabei das Andenken an eine etrurische Vase in der Sammlung des Louvre in uns wieder lebendig, auf welcher jener erste Dichter-Musiker dargestellt ist, mit dem mystischen königlichen Reif um die Schläfe, von einem sternbesäeten Mantel umwallt, die Lippen zu göttlichen Worten und Gesängen geöffnet, und mit mächtigem Griff der feingeformten schlanken Finger die Saiten der Lyra schlagend. Da scheinen die Steine gerührt zu lauschen und aus versteinten Herzen lösen sich karge, brennende Tränen. Entzückt aufhorchend stehen die Tiere des Waldes, besiegt verstummen die rohen Triebe des Menschen. Es schweigt der Vögel Gesang, der Bach hält ein mit seinem melodischen Rauschen, das laute Lachen der Lust weicht einem zuckenden Schauer vor diesen Klängen, welche der Menschheit die milde Gewalt der Kunst, den Glanz ihrer Glorie, ihre völkererziehende Harmonie offenbaren Heute wie ehemals und immer ist es Orpheus, ist es die Kunst, welche ihre melodischen Wogen, ihre gewaltigen Akkorde wie ein mildes, unwiderstehliches Licht über die widerstre benden Elemente ergießt, die sich in der Seele jedes Menschen und im Innersten jeder Gesell schaft in blutigem Kampf befehden. Orpheus beweint Eurydice, das Symbol des im Uebel und im Schmerz untergegangenen Ideals. Es ist ihm vergönnt, sie den Dämonen des Erebus zu entreißen, sie heraufzubeschwören aus den Finsternissen der Unterwelt, nicht aber sie im Leben zu erhalten