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Christoph Martin Wieland Stimmung zu schildern o vermag er noch nicht; noch sind Hain und Höhle, Quelle und Bach opernhafte Kulissen. Der galante Weltmann und lächelnde Ironiker Wie land verkörperte in Wei mar noch die vorklas sische Zeit, die Zeit des anmutigen Spiels leicht tändelnder unpersön licher Gedanken, die Zeit der graziösen Arabeske des Rokoko. Ganz im Pietistischen blieb demgegenüber der schwärmerische Zürcher Johann Kaspar Lavater (1741—1801) stecken, der, Sohn eines angesehenen Arztes, sich früh der Theologie zuwandte, Geistlicher wurde, seit 1769 als Pfarrer in seiner Heimatstadt wirkte, und als die von Frankreich vordrin gende Revolution auch die Schweiz erfaßte, für einige Monate eingesperrt und dann von der verirrten Kugel eines französischen Revolutionssoldaten zu Tode verwundet wurde, als er einem am Boden Liegenden Trost spendete. Seine Gedichte und Erbauungsbücher, seinerzeit viel gelesen, sind heute verdienterweise vergessen, aber aus seiner Sehn sucht nach dem Wunderbaren, aus seinem Interesse an allem Übernatürlichen, an Geisterbeschwörung und Prophezeiungen und aus seinem von ungeduldigem Bekehrungseifer erfüllten Hang zur Bezeugung werktätiger Menschenliebe erwuchs eine der seltsamsten Schriften jener Zeit: die mit vielen Bildnissen geschmückten „Physiognomischen Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe“. Die damals entstehende Mode der Schattenrisse gab ihm die Möglichkeit, sich die Bildnisse aller bedeutenden Zeitgenossen zu verschaffen, an denen er in schwülstigem Orakelton seine Kunst der Seelenzergliederung übte. Er glaubte an die Wahr heit seiner Interpretationen, verstieg sich mehr und mehr in seinen Ausdeutungen und Prophezeiungen und las das Abstruseste aus den Bildnissen, die ihm von allen Seiten einge schickt wurden. Wenn er auch wohl manchmal hineingelegt wurde, so fühlte er sich doch, als man zu ihm als einem Wunder wallfahrtete, in seiner grenzenlosen Eitelkeit als ein von Gott begnadeter Seelenkenner. Auch Goethe gehörte lange zu seinen Bewunderern und Mitarbeitern. Von diesem skurrilen Phantasten zu dem weltumspannenden Humanitäts-Prediger Johann Gottfried Herder (1744 bis 1803) ist ein weiter Sprung. Dieser, als Sohn eines früheren Webers, dann Kantors und Küsters in einem ost- V preußischen Städtchen geboren, hatte, veranlaßt und gefördert von einem I deutsch-russischen Militärarzt, in Königsberg begonnen Medizin zu studieren, aber er wurde bei der ersten Sezierung einer Leiche ohnmächtig und wandte sich dann der Theologie und Philosophie zu. Von innerer Un- rast g etr i e ben, fühlte er sich nirgends glücklich, war Lehrer und Prediger in W ■ Riga, g a b diese einfluß- und erfolg- reiche Stelle auf, unternahm eine mehr- monatige Seereise nach Frankreich, nach Nantes und Paris, war dann Johann Kaspar Lavater Reisebegleiter eines unerzogenen und Johann Woljgang von Goethe (1747—1872) Nach einer Miniatur von J. D. Bager, 177} melancholischen Prinzen, trennte sich von diesem in Straßburg, war Hauptprediger im pietistisch-frommen Bückeburg und kam dann, durch Karl August berufen und von Goethe gerufen, an den Weimarer Hof, wo er die höchsten Kirchen ämter bekleidete und bis an sein Lebensende wirkte. Herder hatte in Königsberg die Vorlesungen Kants besucht, sich zunächst der Ideenwelt dieses kühlsten und klarsten Denkers angeschlossen, dann aber hatten die eigenwilligen, der Auf klärung entgegenwirkenden Gedankengänge der magischen Persönlichkeit Hamanns ihn mächtig ergriffen, wie auch Rousseaus Evangelium der Natur seinen Geist auf Ursprüng lichstes, Ungekünsteltes richtete. So kam er zur Volkspoesie, in der er den ursprünglichsten Ausdruck des Menschen geschlechts, eine wirkliche Gelegenheitsdichtung erkannte. So kam er zum Sammeln der Dichtungen der Völker, zum Begriff der Weltliteratur, zur Übersetzung der spanischen Romanzen vom „Cid“, so auch zum ungekünstelten Genie Shakespeares, dessen Dramen ihm ein „Meer von Begeben heiten“ sind, der aus der Volksdichtung schöpfte. Mit dem Feuer eines Predigers entwickelte er seine „Ideen zur Philo sophie der Geschichte der Menschheit“, zeigte in der stufen weisen Entwicklung ein bewußtes Vorwärtsstreben mit dem Ziel einer allgemeinen Menschlichkeit, der Humanität. Herder gewann mit seiner edlen Sprachbeherrschung, mit der Bild kraft seines Ausdrucks, mit seinem hohen Gedankenflug Johann Gottfried Herder