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IIEITSCIIE KOMAM1K Jean Paul ( Friedrich Richter) (176}—iSij) Nach einer Miniatur von Leo Lehmann Goethe hatte sich nach jahrelangem Ringen zu jener harmonischen Abgeklärtheit durchgekämpft, die das Kenn zeichen der klassizistischen, an die stille, edle Größe der Antike sich anlehnenden Periode in Kunst und Dichtung ist. Aber nicht alle Zeitgenossen waren von dem gleichen Drang beseelt. Gleichzeitig bildete sich eine andere, in ent gegengesetzter Richtung strömende Kunstanschauung aus, die in der befreienden Tat der Aufklärung und ihrer Ver nunftanbetung nichts als Nüchternheit und phantasielose Vernünftelei sah, die in der tiefen Klarheit und blendenden Helle der deutsch-griechischen Klassiker-Dichtung eine Ein engung und Hemmung des freien Künstlertums erblickte, und die von tiefsten Sehn süchten erfüllt war, von der Sehnsucht nach einem ver lorenen, weltfernenTraumland, nach einem geheimnisvollen Halbdunkel, nach einem von zauberhaftem Mondlicht be glänzten Märchenland, nach einer „mondbeglänzten Zauber nacht, die den Sinn gefangen hält“, nach stimmungsvoller Schalmeienmusik, Waldeinsam keit und Nachtigallenschlag, nach dem Wunderhorn alt deutscher Volkspoesie, nach der Kunst- und Weltanschauung des Mittelalters mit seiner frommen Marienverehrung, seiner Abenteuerlichkeit und seinen Heldenliedern. Roman tik war dafür das Schlagwort, die „blaue Blume“ das Symbol. Begreiflich, daß diese Roman tiker, die in den Dramen Shake speares alle ihre Wünsche er füllt sahen, nicht die Kraft einer eigenen Dramenschöpfung aufbrachten, die Konzentrierung verlangt hätte, daß erst ein Außenseiter und Spätling der Bewegung, Heinrich von Kleist, diese Dichtgattung unter Mühen erobern konnte. Verständ lich, daß im Roman der Stimmungsgehalt die festen Formen sprengte, die geschlossene Kunstform auflöste, und daß er sich zu einem Blumengarten auswuchs, in dem Kraut und Rüben und üppiges Gestrüpp jene Verwilderung schufen, die einen freien Durchblick verwehrte, daß nur in der Früh zeit ein Meister wie Jean Paul, ebenfalls ein Außenseiter, noch eine Kunstform zusammenbringen konnte, die sich nicht im Dunst verlor wie die gleichgearteten Schöpfungen der Hochromantik, und daß erst wieder ein Spätling, E. Th. A. Hoffmann, in seinen spukhaften Novellen einheitliche Kunstwerke schaffen konnte. Die für diese Richtung gegebene Dichtgattung aber war die Lyrik. In ihr erreichte die Roman tik das Höchste und Tiefste von Poesie, in den Liedern und Hymnen eines Novalis, in den Romanzen und frommen Dichtungen eines Brentano, in den volkstümlichen Wander-, Liebes- und Naturliedern eines Eichendorff. Auch das Märchen lag den Romantikern. Die Brüder Grimm hoben den alten deutschen Märchenschatz, Brentano und Arnim schufen neue Märchen. Eine schwärmerische Verehrung zog die frühen Romantiker zur alten deutschen Kunst, vor allen Wackenroder und Tieck vertieften sich darein. Die großen Theoretiker der Bewegung waren die Brüder Schlegel, von denen der eine dem deutschen Volk den deutschen Shake speare gab, der andere vor allem als Anreger wirkte. Als ein Vorläufer der Romantik kann Johann Paul Friedrich Richter gelten, den man besser unter seinem Schriftsteller namen: Jean Paul (1763—1825) kennt. Er war als Sohn eines armen Predigers im Fichtelgebirge geboren, hatte früh die Not kehnengelernt, die ihn auch noch lange weiter durchs Leben geleitete, studierte in Leipzig und las uferlos, vor allem englische Aufklärungsliteratur, verdiente durch seine ersten Romane nur karge Hono rare, wurde Schulmeister, trieb sich sein Lebtag in mitteldeut schen Kleinstädten und kleinen Residenzen herum, versuchte vergeblich in Weimar Fuß zu fassen, fand schließlich in Bay reuth einen Gönner und konnte sich erst seit 1809 ein behag liches, sorgenfreies Leben gönnen. In seinen zahlreichen Romanen, die von einem ge mütvollen Humor erfüllt sind — er ist der erste deutsche Schriftsteller von Bedeutung, der sich ausschließlich dem Roman widmet, der keine Vers- zeile hat schreiben können — in allen seinen Romanen treffen wir immer wieder vier Menschentypen an, in deren Charakterisierung er nicht müde wird: da ist der ideal gesinnte, reine deutsche Jüngling und die empfindsame keusche deut ¬ sche Jungfrau (Idealgestalten, die, wie Schillers Max und Theckla, der jungen Generation der Zeit der Befreiungs kriege ihren hohen Schwung liehen, da ist der weltschmerz lich zerrissene, pathetische Zyniker und sein humoristisch satirisches Gegenspiel in Gestalt seltsamer Käuze. So blaß und angekränkelt uns heute manche dieser mit liebevollem Humor gezeichneten Gestalten erscheinen, sie haben in den empfindsamen Zeitgenossen jene schwärmerische Ver ehrung für den Dichter erzeugt, die einem Goethe, außer in seiner Werther - Periode, versagt blieb. Sein sprach schöpferisches Genie, seine alle Schranken sprengende Traum phantasie, seine skurile Sucht nach dem Ungewöhnlichen und sein Gefühlsüberschwang heben ihn weit aus der Masse der dichtenden Zeitgenossen empor. Aber er gerät manchmal in eine grenzenlose Formlosigkeit und sprachliche Verwilde rung, die manchem das Eindringen in sein Werk verwehrt. Er kramt aus seinen unendlichen Zettelkästen mit angelesenen und ausgezogenen Notizen die unsinnigsten Dinge hervor, um sie in seine Romane einzufügen. Er läßt einen seiner Helden in einem Dorf Rom geboren werden: „Auch der unwissendste meiner Leser, der nie ein Buch gesehen, kann dieses Rom weder mit jenem großen italischen verwechseln, das so viele Helden und Päpste aufzog, noch mit dem kleinen französischen, IOI