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zogen sie in die Schenke, wo das Erntebier getrunken und bis zutn Morgen getanzt wurde. In der Niederlausitz wird die letzte Garbe mit Blumen und einem Birken- busch geschmiickt 1 . In der Oberlausitz sind die Brauche mit dem Einbringen der letzten Garbe schon verblaBt. Im Rahmen des Erntefestes (domkhowanka, mala kermuška) wird hier dem Hauswirt ein aus allen Getreidearten gefloch- tener und mit einer Schleife geschmiickter Kranz oder Biischel iiberreicht, den er in der Stubenecke aufhangt. Dafiir bietet er den Leuten eine gute Be- wirtung, womdglich verbunden mit Tanz. 126. Die Ernte beschlieflen heiflt kokota lapać (ns. k. łapiš), »den Hahn fangen«, angeblich deshalb, weil der Wirt friiher in den letzten Schwaden einen Hahn versteckte, den die Erntearbeiter beim Zusammenraffen des Ge- treides fingen 2 . In Wirklichkeit geht der Name auf die uralte weitverbreitete Anschauung zuriick, daB sich der Geist des Wachstums vor den Schnittern bis in die letzten Halme zuriickziehe. Die letzte Garbe, die daraus gebunden wird, ist also der Sitz des Vegetationsgeistes, den man sich tiergestaltig denkt, und zwar am haufigsten als Hahn 3 . Als sinnfalliger Ausdruck dieser Vorstellung wird haufig ein Hahn an den Erntemai gebunden und auf der letzten Getreide- fuhre eingefahren. Der Geist des Erntesegens erscheint aber auch als Gans, Kater, Hund, Hase, Weizensau, Kornbock, HabergeiB, Roggenwolf, Korn- oder Gersten- mockel (=Kuh), Wachtel (Riesengebirge) u. a. 4 . Die Ukrainer dachten sich den im letzten Getreidebiischel enthaltenen Wachstumsgeist oft als Lerche, die Weifirussen als Wachtel, die Grofirussen als Ziege 5 , die Polen meist als Wachtel, Henne, Ziege usw. °. Der oben erwahnte in die letzte Garbe gesteckte Birkenbusch ist ein Ernte- mai (so heiBt im Rheinland der in die letzte Garbe gesteckte Ast einer Eiche, Buche, Birke oder Weide) und ist ein Gegenstiick des Maienzweiges oder Maibaums. Wahrend letzterer den Geist der im Friihling neu erwachten Vegetation im allgemeinen verkorpert, reprasentiert der Erntemai speziell den Wachstumsgeist des Getreides. Der Erntemai heiBt vielfach Hahn, Hase, chien de la moisson, Mockel, also ein Beweis, dafi er als Verk6rperung dieses tiergestaltigen Wesens gedacht wird. Mannhardt legt iiberzeugend dar, daB der Erntemai in der letzten Garbe ein gutes Gedeihen der neuen Aussaat gewahrleisten soll: In Savoyen z. B. bindet man die zuerst geschnittenen Ahren an einen in das Saatfeld gesteckten Baumzweig 7 . Der alle Getreidearten enthaltende Erntekranz soll ebenso wie der Jo- 1 Miiller 165. — 2 Schmaler, Volksl. II, 221; Miiller 165. — 3 Sartori, SB. II, 87: Rheinland, Anhalt, Brandenburg, Szekler usw.; Mannhardt, WFK. I, 212. — * Sartori, SB. II, 87 ff.; Fehrle, Deutsche Feste und Volksbrauche 76; Mannhardt, WFK. I, 609, II, 155; HDA. s. v. Ernte. — 5 Zelenin, R. V. 39. — 6 Bystroń, ZŹ. 44. — 7 Mannhardt, WFK. I, 213.