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es weitverbreitete Sitte war und vielfach noch ist, daB der Geistliche an diesem Sonntag von der Kanzel einen Rechenschaftsbericht iiber die Ge- burten (Taufen), Todesfalle und Trauungen im letzten Kirchenjahr verlas. Es ist begreiflich, daB sich in den Madchenherzen der Wunsch regte, iibers Jahr unter den Verlesenen zu sein, und daB sie sich mit Bitten und Fragen an den Apostel wandten, der den Beginn des Kirchenjahres beherrschte. Fiir diese Erklarung der Funktion des hl. Andreas als Mannerbescherers aus der zeitlichen Lage seines Gedachtnistages (festgesetzt auf dem zweiten nicaischen Konzil 787) spricht auch eine Tatsache, auf die meines Wissens bis jetzt noch niemand aufmerksam gemacht hat: Die geographische Verbreitung der Andreasorakel zeigt, dafi sie in orthodoxen Gebieten nicht geiibt werden, hochstens in Grenz- und Ubergangsgebieten (z. B. bei den griechisch-katholi- schen Kleinrussen). Schon beim Studium der serbokroatischen Advents- und Weihnachtsbrauche fiel mir auf, dafi bei den katholischen Kroaten das „An- dreseln“ bliiht, dafi es aber den orthodoxen Serben fremd ist, ebenso wie den Bulgaren und Russen 1 . Das Andreseln ist also eigentlich ein Neujahrsbrauch zu Beginn des Kir- chenjahres. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dafi in manchen slowakischen Gegenden friihmorgens am Andreastag ein Mann als erster Be- sucher Gliick wiinschen kommt, allerdings in humoristischer Weise. Die Serbokroaten schreiben dem Gluckwunsch des ersten Besuchers (polaženik) am Christtag (alter Jahresbeginn!) besondere Kraft zu. Was den Glauben an die Funktion des hl. Andreas als Mannervermittlers noch gestiitzt haben mag, das ist der Umstand, daB der Name Andreas den Begriff Mann (dvi)p, dv8p6s) enthalt, denn dafi Heiligen gewisse Funktionen oft nur auf Grund ihres Namen beigelegt werden, ist in der Volkskunde eine haufige Erscheinung. So riefen die Deutschen bei Gichtleiden den hl. Wolf- gang an, den Sebastian bei Pestgefahr. Bei den Italienern gilt Lucia als Beschiitzerin des Augenlichts, bei den Franzosen Klara, bei den Serben der hl. Vid, Veit (volksetymologisch angelehnt an uideti, sehen). Volksety- mologischer Anlehnung an luk »Zwiebel«, verdankt der hl. Lukas sein Pa- tronat iiber die serbischen Gartner. Uber Wesen und Bedeutung der volks- etymologischen Attribute christlicher Heiliger handelt E. Kalužniacki in der Jagić-Festschrift, Berlin 1908, S. 504—526. Das aus der Heide bezeugte Spinnverbot fiir den Vortrag des Andreas- tages 2 laBt sich aus der grofien Verehrung des Heiligen von seiten der Spinn- stubenbesucherinnen erklaren. Vielleicht hangt es mit diesem Verbot zu- sammen, dafi in der Niederlausitz junge Leute am Andreasabend einen alten Topf, gefiillt mit Scherben, Erde, Abfallen vom Webstuhl usw., in die Stube werfen mit den Worten: „Nehtnet unsern Unfleifl und gebt uns etiren Fleifl!" Gelingt es, den Fortlaufenden zu ergreifen, so wird ihm das Gesicht mit der rufiigen Hand geschwarzt’. Das scheint ein alter Spinnstubenbrauch zu sein, 1 Schneeweis, Weihnachtsbrauche Skr. 3 ff. — ’ Schulenburg, W. V. 126. — 3 Miiller 156.