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werk seiner Feder unverdächtig unterzuschieben, der in die Paulinerkirche zu Leipzig eine angebliche Inschrift von DANTE (!) einschmuggelte, die jahrhunderte lang mit Stolz gezeigt worden ist. Mit geradezu einmaliger Dreistigkeit zitierte er erfundene Stellen aus den antiken Historikern und Geographen, die er so zusammen reimte, wie er sie brauchte. Darüber hinaus gab er vor, im Besitze vieler Chroniken des frühen Mittelalters zu sein, wobei er die Namen der Verfasser höchst geschickt erfand, so daß er seine Vorspiegelungen glaubhaft zu machen wußte — darin ähn lich dem Abt von Sponheim JOHANNES TRITHEMIUS", der allerdings nur die beiden Geschichtsschreiber „Hunibald" und „Meginfred" in die Welt setzte, mit denen sich dann Agricola plagen mußte. Wenn Agricola die Anregung zu geschichtlichen Forschungen einem so noto rischen, verantwortungslosen Fälscher verdankt, darf man gespannt sein, wie er diese Verstrickung in Lüge und Phantasie überwunden hat. Mindestens der Phanta sie begegnete er im zeitgenössischen Schrifttum überall noch in einer solchen Stärke, daß es nicht verwunderlich wäre, wenn er sich ihr gebeugt hätte. Die humanistische Geschichtsschreibung war vielfach mit dem Streben belastet, daß schlechthin Denkwürdige, vor allem das rühmenswerte große Ereignis ohne Pflicht zur Objektivität aus dem bloßen Bedürfnis der Erinnerung zu vermelden. Der ehrgeizige Historiker wollte genauso Entdecker sein wie der Seefahrer, der Mediziner, der Zoologe — wodurch sich vielfach der Gegenstand seiner Darstellung vom Denkwürdigen zum bloß Merkwürdigen ver schob, weil die Überbewertung des „Neuen" in die Vermehrung des Stoffes trieb, der Vertiefung in den Stoff jedoch auswich. Immer drohte der rhetorische Maßstab, der an jede Darstellung angelegt wurde. Damit war aber die Geschichtswissenschaft in ständiger Gefahr, als bloß literarische Gattung bewertet zu werden. Sie ist auch dementsprechend als rein literarisches Anliegen von unzähligen „Historikern" auf gefaßt worden, die auch aus dem Kreise Agricolas geschichtliche Darstellungen im Gewände des prunkvollen lateinischen Gedichtes geliefert haben. Wo der litera rische Ehrgeiz in dieser Weise dominiert, werden die Gewissenhaftigkeit, der Cha rakter und die Persönlichkeit den Ausschlag geben, ob die historische Darstellung durch fleißiges Studium der Überlieferung eine echte Mehrung der Kenntnisse bringt oder vielmehr glanzvolle, aber pseudowissenschaftliche Phantasiebilder ent wirft. War der historisch-philologische Eifer, der das antike Schrifttum oder die mittelalterlichen Chroniken durchforschte, einmal vergeblich, weil nichts „Ruhm würdiges" zu finden gewesen war, dann konnte die enttäuschte Hoffnung auf „ruhmbringende" Ergebnisse sehr wohl verführen, nachzuhelfen. Wenn obendrein patriotische Begeisterung eine solche Nachhilfe guthieß, dann war es von der bloßen Übertreibung zur Fälschung, von der statthaften Deutung zur unstatthaften Sinnunterschiebung nur ein kleiner Schritt. Dieser geht infolge der völlig fehlenden historiographischen Theorie weniger auf ein Versagen der Wahrheitsliebe als auf ein Versagen der kritischen Methode zurück, wenn wir einmal die wenigen Fälle der bezahlten Fälschung ausnehmen, die zum Ruhme des Auftraggebers und nicht ' JOHANNES TRITHEMIUS (1462—1516), ein höchst merkwürdiger Mann, öffnete als Abt des Benediktinerklosters Sponheim wie als Abt des Schottenklosters in Würzburg dem Humanismus die Klosterpforten, schrieb ein erstaunlich gelehrtes, kritisches Werk (de scriptoribus ecclesia- sticis), entlarvte den berühmt-berüchtigten Dr. FAUST, fälschte aber die annales Hirsaugienses und erfand Geschichtsschreiber, mit deren angeblichen Nachrichten Agricola sich im „Stamm baum der Sippschaft des Hauses Sachsen“ auseinandersetzen mußte.