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Deutscher Reichstag. Sitzung vom 28. Novcmbrr. Bei der heutigen Fortsetzung der Teuerung^ Debatte wurde in der Hauptsache vom Regierungs tische aus weiteres Beweismaterial beigebrach: zur Entkräftung der freisinnigen und sozialdemo kratischen Forderung, unser Wirtschaftssystem von Grund aus zu ändern. Vergebens bemühte sich -er landwirtschaftliche Sachverständige der Fort schrittlichen Volkspartei Abgeordneter Wendorff mit großem Aufwand an bekannten freisinnigen Dogmensähen der Freihändler, das Haus und die Regierung davon zu überzeugen, daß die Fort setzung der bisherigen Wirtschaftspolitik das deut sche Volk zum Abgründe führen müsse. Im übri- gen wiederholte er in anderer Form das, was von dem sozialdemokratischen Begründer der Inter pellation gestern schon ausgeführt worden war. Dabei passierte ihm das Malheur, daß er sich selbst zum Teil widerlegte. Die übrigen Redner des Hauses unterstützten in der Hauptsache die Aus führungen, die heute vom Regiernngstische aus gemacht wurden. Die Verantwortlichen Sachver ständigen ergrisfcn das Wort. Der preußische Landwirtschaftsminister hatte es sich zur Aufgabe gemacht, — und sie ist ihm durchaus gelnngen —, nachzuweisen, daß die Maßnahmen der Regierung bisher schon außerordentlich gute Erfolge gezei tigt haben und daß sich auch die Einfuhrscheine und unsere ganze Wirtschaftspolitik gerade für die kleinen Viehzüchter und die kleinen Landwirte überhaupt bewährt haben. Er redete besonders nachdrücklich der »veiteren Stärkung der inländi schen Fleischproduktion das Wort und der inneren Kolonisation, vor allen Dingen aber dem Abschluß von langfristigen Liefcrungsverträgen zwischen den Gemeinden und Viehprodnktionsgenossen- schaften unter Ausschaltung des das Fleisch unnö tig verteuernden Zwischenhandels. Nachdem sich die Redner der Reichspartei und des Zentrums Löscher und Dr. Matzinger ihm angeschlossen bat ten und sich mit aller Kraft einer Änderung un serer Wirtschaftspolitik entgcgengestellt hatten, erbrachte der Präsident des Reichsgcsundbcitsam tes Professor Dr. Bumm den Nachweis, daß sich die Sozialdemokratie bei ihren Behauptungen über die Notwendigkeit eines Fleischminimums bei der Ernährung des Menschen nicht auf amtliches Ma terial oder auch nur auf die Ergebnisse wissen schaftlicher Forschungen stützen könne. Wie dicZeit vorüber sei, in der man als Gradmesser der Wohl habenheit den starken Verbrauch von Wein und Bier genommen hatte, so würde auch eine Zeit kommen, in der man weniger Wert auf die Ernäh rung der Bevölkerung durch^Fleisch, als durch an dere Eiweiß zuführende Produkte, wie Gemüse, Eier und Milch, legen würde. Anzeichen für eine Unterernährung des Volkes lägen nirgend vor und kämen auch nur in kleinen Schichten bei Ar beitslosigkeit und Mißernten vor. So holten sich die Gegner unserer Wirtschaftspolitik auch heute von den sachverständigsten Männern der Regie rung eine neue Abfuhr, und kein Zlveifel besteht darin, daß die Mehrheit des Reichstages und auch die Mehrheit des Volkes von einer Änderung un serer Wirtschaftspolitik jetzt und in Zukunft nichts wissen will. ' Der Krieg am Balkan Der Stand der Verhandlungen. Konstantinopel, 29. November. (Dep.) Die Bevollmächtigten der beiden kriegführenden Teile haben eine neue Zusammenkunft gehabt. Es verlautet, bah die Pforte jetzt iwch eine Grenze Hr. 278. Das Neueste vom Lage Der deutsche Kronprinz ist heute vormittag 8 Uhr vom Bahnhof Friedrichstraße zu den Bei. setzvng-feirrlichkeiten für die Gräfin Flandern nach Brüssel »hgerrist. Der Bnndesrat hat den Antrag Bayerns, be treffend den Vollzug des JesnitengesrtzeS, abgc- lehnt. (Siehe Deutsches Reich.) Die Waffenstillstandsverhandlunge» zwischen der Türkei und Bulgarien sind noch ohne Ergeb- «iS; der strittige Punkt ist immer noch Adriano- pel. (Siehe Letzte Depeschen.) * Ans der Werft in Wilhelmshaven entstand heute Rächt Großfeurr, das am Südkai großen Schaden anrichtete. In einem belgischen Kalksteiubruch wurden sieben Arbeiter durch niedergehendes Gestein ge tötet. Vorschlägen soll, die von einem Punkte der bishe rigen türkisch-kmlgarischen Grenze bei Casa-Jrd- jali ausgeht, dann fast senkrecht zur Küste des ägäischen Meeres abfällt und der Türkei Dedea- gatsch beläßt. Türkische Kreise zeigen sich opti- mistisch und glauben, daß die Verhandlungen bis Montag zum Ziele kommen dürften. Ein maßgebender türkischer Staatsmann er klärte dem Vertreter von Wolffs Telegraphischem Bureau, daß die bulgarischen und türkischen Un- terhändler nur den Auftrag hätten, über die Be dingungen für einen Waffenstillstand zu verhan deln. Don türkischer Seite werde dabei der Stand punkt vertreten, daß die Waffenruhe auf dem ge samten Kriegsschauplätze cintreten müsse, wäh- rend deren alle Truppennachschübe und MÄni- tionstransporte unterbleiben Müssen, die Der- Pflegungszufuhr und der Abtransport der Kran ken und Verwundeten aber erlaubt werden solle. Tahin gehöre auch die Erlaubnis des Eintrittes des Roten Kreuzes in Adrianopel. Erst wenn der Waffenstillstand effektiv sei, könne man über Vor schläge zu Friedensverhandlmrgen beraten. Bis mittags waren die Verhandlungen anscheinend noch zu keinem Ergebnis gelangt, doch sollen die Bulgaren entgegenkommender geworden sein. Proklamierung der Unabhängigkeit Albaniens. Rom, 29. November. (Tep.) Wie der „Agen- zia Stcfani" ausValona gemeldet wird, haben die albanesischen Delegierten gestern in einer Ver sammlung, in der Ismail Kemal-Bey den Vorsitz führte, die Unabhängigkeit Albaniens prokla miert. Unter dem Jubel der Bevölkerung, die vor dem italienischen und österreichisch-ungarischen Konsulat begeisterte Kundgebungen veranstaltete, wurde die albanische Flagge gehißt. Patriotische Kundgebung in Wien. Wir«, 29. November. (Tep.) Gestern nach mittag fand eine außerordentliche Gemeinderats- sitzung mit der Tagesordnung Loyalitätskund- gebung statt. Nach einer patriotischen Rede iws Bürgermeisters Neumaycr wurde die Kund gebung zum Beschluß erhoben. In der Kund gebung heißt es: Der Friede Hsterreich-Ungarus ist seit Ausbruch des Balkankrieges durch unbe rechtigte maßlose Eroberungsgelüste bedroht, welche in der Hoffnung auf die Uneinigkeit der Völker des Reiches Nahrung finden. Tie Erbitte rung des Volkes über vereinzelte unpatriotifche Äußerungen und Handlungen wächst stündlich. Wohl ist der Friede das höchste Gut der Völker und seine Erhaltung großer Opfer wert. Aber das wirtschaftliche Gedeihen der Völker und der Segen der Arbeit werden nur solchen Staaten zu teil, welche den Frieden nicht durch ehrlose Schwäche, sondern gestützt aus das Bewußtsein ihrer gerechten Sache kraftvoll erhalten. — Mit dem Absingen der Volkshymnc und unter begei sterten Hochrufen auf den Kaiser, das Vaterland und die Armee wurde die Sitzung geschlossen. In zwischen batten sich gegen 2000 Personen im Ar kadenhofe des Rathauses versammelt, welche nun mit den Mitgliedern des Gemeinderatcs unter Absingen patriotisäxw Lieder und Hochrufen aus den Kaiser zum Tcutschmeisterdenkmal zogen. Hier hielt vor der inzwischen noch weiter ange wachsenen Volksmenge Bürgermeister Neumaye: nochmals eine begeistert aufgenommcne patrio tische Ansprache, worauf sich die Menge unter brausenden Hochrufen auf Kaiser und Reich zer streute. Vom westlichen Kriegsschauplatz. Cetinje, 29. November. (Dep.) In einem Manifest gibt der König bekannt, daß er die wei teren militärisci)en Operationen persönlich leiten werde. Die Türken in Skutari setzen in längeren Zwi schen räumen das Geschützfcuer gegen die monte negrinischen Stellungen fort, ohne jedoch Schaden anzurichten. Vom See war heute kein Kanonen donner hörbar. Einberufung der Jahresklasse 1883. Konstantinopel, 29. November. Das Kriegs ministerium teilt mit, daß die Rekruten des Ge- burtsjahrgangeS 1893 sofort zn den Waffen bern- fen werden sollen. „Eine Schlacht mit Holzkugeln". Der englische „Daily Miror" weiß seinen Le- fern eine neue Sensation vom Kriegsschauplätze zn berichten. Aus einem längeren Artikel, der durch mehr oder minder wertvolle Interviews kommentiert wird, sei folgendes mitgeteilt: Ein Kricgskorresvondent deS „Daily Miror" hat auf dem Schlachtfeld von Kumanowo an- geblich zu Hunderten Patronen gefunden, deren Hülse zwar aus richtigen» Metall bestand, deren „Kugel" jedoch von weichem, rotangestrichenem Holz war. Der KriegSkorrespondent will diese „Kugeln" mit dem Taschenmesser zerschnitten haben. Diesen Bericht illustriert das englische Blatt durch eine Photographie auf der Titelseite, auf der man die Patronen, die zersplitterten Holz projektile und — last not least — die Verpackung mit der Aufschrift „Deutsche Waffen- und Muni tionsfabrik, Karlsruhe" erkennt. Das englische Blatt kann es sich nicht verkneifen, der» letzteren Umstand noch durch ein „Made in Germany" in der Überschrift dieses Bildes zu unterstreichen. So weit die erste Seite — denn durch den erläutern den Artikel wird der Leser genauer unterrichtet. Das Blatt gibt zu, daß auf der Verpackung der Patronen in türkischer Sprache stand „Hölzerne Manöver-Patronen", und erklärt ferner, daß ein wohlbekannter, englischer Geschoßfabrckant einem Mitarbeiter des „Daily Miror" folgendes sagte: „Die deutsche Firma, die die Patronen lieferte, ist natürlich gänzlich unschuldig. Diese Fabrikan ten sieben in sehr hohem Rufe und führten nur den Auftrag aus, den sie von Konstantinopel er hielten. Diese Scheinpatronen sind aus Deutsch land bestellt, und türkische Beamte in Konstanti nopel haben sie als Kriegspatronen durchgehen lasten und die Preisdifferenz zwischen den wirk- licken und den Scheinpatronen eingesteckt." Durch diese Ausführungen wird natürlich der hämische Vorwurf gegen die deutsche Firma voll ständig entkräftet. Falls die Ausführungen des „Daily Miror" überhaupt zutreffen, so eröffnen sie allerdings einen Abgrund von Korruption, die in der türkischen Armee herrscht. Unter diesen Uniständen kann man sich die Flucht der 28000 Türken in der Schlacht von Kumanowo recht wohl vorstellen, denn die hölzernen „Geschosse" sind ia so leicht, daß sie überhaupt Reine Entfernung durchfliegen können und nach dem Verlassen des Gewehrlaufes wohl auch sofort zersplittern. Wir müssen natürlich dem englischen Organ die voll ständige Verantwortung für die Enthüllung Kie set skandalösen Vorgänge überlassen. Der „Daily Miror" selbst zitiert einen Ausspruch des Gene ralfeldmarschalls v. d. Goltz über die türkische Ar mee: „Die geschlagene Armee war nichts als ein Rckrutenheer!" Sollte sich der Bericht des „Daily Miror" bewahrheiten, so würde Generalfeldmar schall v. d. Goltz für das türkische Heer Wohl noch kräftigere Worte der Kritik haben .... Der Person unseres Kaisers ist der russische Generalmajor von Tatischtschew zugeteilt. Diese Einrichtung ist auf die alte preußisch-russische Waffenbrüderschaft zurückzuführen. Auch der Zar hat einen preußischen Offizier in seinem Ge folge, der seiner Person attachiert ist. In letzter Zeit fiel bei den bewegten politischen Zuständen auf, daß der russische Generalmajor sich sehr hau- fig in Gesellschaft des Kaisers befand. LIS der Kaiser sich kürzlich zu den Hochzeitsfeierlichkeiten nach Donaueschingen begab, hatte sich zur Berab- schiedung auf der Station Wildpark auch Gene ralmajor Tatischtschew eingefunden. Jetzt hat sich der Offizier im Auftrage deS Kaisers an das Hoflager deS Zaren nach ZarSkoje Sselo begeben. Man nimmt an, daß er ein kaiserliches Handschrei, ben übergeben soll. Auch beim Empfang deS öfter* reichisch-ungarischen Thronfolgers war General major Tatischtschew zugegen. Politische Übersicht. Deutsche» «elch. Ein Anschlag gegen das Kronprinzenpaar? Aus Schneidemübl bei Posen wird gemeldet: Ein Eiscnbahnatte>ttat wurde hier in der letzten Nackt verübt. Auf die offene Strecke der Linie Berlin war eine 15 Meter lange Schiene gelegt worden.