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( o ) Es ist wohl gut, daß der Mensch die Zukunft nicht kennt.- Wie gern möchte doch der Mensch die Zukunft enträthseln; aber aus weisen Gründen ward von dem Lenker seiner Schicksale ihm ein Blick über die Gegenwart hinaus versagt. Die- ser Drang, über die vor uns sich erhebenden Berge der Zeit hinwegtuschauen, war von je» her die Veranlassung zu so vielen thörichten, abgeschmackten und lächerlichen Versuchen, die immer noch hier und dort angestcllr werden, um seinen Gesichtskreis zu erweitern, und was wir nicht wissen und nicht wissen können, wol. len wir von Zigeunerinnen und Betrügern er fahren. Hier sieht ein junger Herr die Kar ten inbrünstig an, ihm doch zu sagen: welches Mädchen ihm einst zu Theil werde; dort guckt ein jugendliches Gesicht in einen Kristallspit- gel, nicht um sich, sondern um die Zukunft zu erschauen; eine ältliche Donna sitzt, mit ern stem Blicke, vor einer Kaffeeschaale, nicht um zu trinken, sondern um zu ergründen, was ihr die Weisheit des größten Sterblichen nicht sagen kann; mancher halb verrückte Gelehrte sitzt seine halbe Lebenszeit hindurch vor dec Offenbarung Johannes, um die Zeit des Unter ganges aller Dinge daraus herzuleitcn, und so lange jenes Buch in der Welt gewesen ist, so lange haben sich von Zeit zu Zeit auch Nar ren gefunden, die sich ein Geschäft daraus machten, die schwachen, thörichten Menschen mit Furcht und Zittern zu erfüllen. Aber fast immer trieben Selbsttäuschung und Geldschnci- derei ihr betrügliches Spiel, und mancher Ein» faltige gab, um über die Zukunft etwas zu erfahren, einen Pfennig hin, dessen er für die Gegenwart doch so nölhig bedurfte! Der Mensch soll die Zukunft nicht kennen, weil er dadurch an Ruhe, Zufriedenheit, ja selbst am Adel der Seele mehr verlieren, als gewinnen würde. Denn wir können wohl überzeugt seyn, daß nichts uns versagt und nichts uns verliehen wird ohne hinreichenden Grund, und daß wir, diente es anders zu un- serm Glücke, gewiß die Fähigkeit von der Vor sehung erhalten haben würden, den Schleicrzu lüsten, der die Zukunft verbirgt. Die ganze Einrichtung unserer Natur und der Umfang unserer Kräfte waren nur für den Zustand berechnet, worin wir gegenwärtig le ben. Menschen sollten wir seyn und keine hö here Wesen; darum versagte uns Gott die Gabe, die Zukunft zu ergründen, welche sich wohl nur für Wcftn eignet, die auf einer hö- Hern Stufe des Daseins sich befinden. Denn, wir thörichtt, von Leidenschaften hin und her gezerrte, Menschen würden eine solche Gabe nur mißbrauchen, und manche glückliche und selige Stunde, die wir nun in Unbefangenheit genießen, würde dann mit Gram und Sorgen nur angefüllt seyn- Wüßte der Mensch sein Schicksal, vielleicht feinen unausweichlichen, bald erfolgenden Tod zum voraus, — wie viele Handlungen, die in ihren Folgen wohlthän'g für andere sind, wür den nicht unterbleiben! Wie würde doch man» cher mit solcher Sorgfalt und Mühe sein Feld bestellen, wenn er wüßte, daß die Ernte ihm nicht mehr zu Gute kommen könnte! Wie würde er so klug seinen künftigen Vortheil be rechnen, wenn es ihm bekannt wäre: Du wirst die Früchte nicht genießen von dem Baum, welchen Du mit Sorgfalt anpflanzest! Esgiebt ja Menschen, die im Leben nichts für andere thun, und d>e nur in der guten Hoffnung, lange noch zu leben, für andere sparen undar beiten. Wie mancher Vater, wie manche Mutter, die ein geliebtes Kind mit inniger Zärtlichkeit an ihre Brnst drückt, würde dieses Glücks nicht genießen, wenn sie in die Zukunft schauen und es wissen könnte, daß vielleicht nach wenigen Jahren oder Tagen schon der Tod den Lieb ling von ihrem blutenden Herzen r-ißt? Wie manches Ehepaar, selig und glücklich nun sich fühlend, würde von schwerem Kummer nieder gebeugt werden, wenn es ibm bekannt wäre: bald wird unabänderlich dieses Band der Zärt lichkeit und der Liebe durch die Hand des To des aufgelösct werden? Wie würde doch man- cher Mensch, dem unausweichlich ein schauder haftes Ende bevorstcht, viele ^ahre vorher schon trauern und verzweifelnde Angst fühlen, die er nun unbefangen und glücklich durchlebt? Meißner Calender E.