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Jahrbuch für Freunde des Nützlichen Md Angenehmen. Rückblick auf die Zeitereignisse vom Juli 1861 bis Juni 1862. Wahrend wir in den zwei letzten Jahrgängen unsers Kalenders Rückblicke zu werfen hatten aus wichtige Ereignisse mit noch wichtigeren Folgen (wir erinnern nur an die Neugestaltung Italiens), zeigt uns der Rückblick auf die letzten zwölf Mo nate weniger thatsächliche Ereignisse als vielmehr allgemeines Unbehagen, stilles Gähren, Vorberei tungen auf kommende Ereignisse, die, wie der Dichter sagt, ihren Schatten vor sich her werfen. In Deutschland gewinnt die Ueberzeugung von der Nothwcndigkeit einer freiheitlichen Einheit Tag für Tag mehr Boden imVolke. JnFrauk- reich zeigt sich, wie Napoleon III. nicht mehr der alleinige Herr der Lage ist, wie auch er Pläne vertagen, Rücksichten nehmen muß auf Dinge und Parteien, die er nicht wie am 2. December 1850 mit brutaler Gewalt beherrschen und vernichten kann. Italien verlangt täglich ungestümer die Räumung Roms von der französischen Besatzung, die den Papst in seiner weltlichen Herrschaft schützt und die Erhebung Roms zur Hauptstadt Italiens verzögert. Die Italiener sind unzufrieden, sich nicht dem französischen Einfluß entziehen zu kön nen, und erklären laut bei jeder Gelegenheit: sie hätten nicht Anstrengungen gemacht und Feldzüge, nur um den Einfluß der Oesterrcicher, der nun vernichtet sei, zu vertauschen mit dem Einflüsse der Franzosen. Sie wollen frei sein durch sich selbst, „frei bis zur Adria", daß heißt, sie verlangen den Abzug der Franzosen aus Rom, wie die Räu mung Venetiens von den Oesterreichcrn. Auf fried lichem Wege, daS wissen sie, ist das nicht zu er reichen. Und da die Regierung Victor Emanuels noch nicht stark genug ist, um sich des erdrückenden Einflusses des übcrmütbigen Bundesgenossen zu entledigen, so bereitet sich wenigstens das Volk im Geheimen und hier und da auch öffentlich darauf vor, im rechten Zeitpunkte gerüstet und geübt zu sein, um nöthigen Falle» mit Gewalt auS dem Lande zu jagen, was nicht itglienisch ist. Im gro- ßen russischen Reiche gährt es überall. Der jetzt regierende Kaiser Alexander II., erscheint vom besten Willen beseelt, aber der fast übermenschlichen Aufgabe einer Reorganisation des ganzen Volkes nicht vollkommen gewachsen. Der Widerstand, den seine menschenfreundlichen Pläne überall finden, wird — man kann das schon jetzt beobachten— den ern sten Willen des Kaisers allmälich erlahmen lassen. Dennoch ist es ihm trotz dem zähesten und zuweilen gefährlichen Widerstande der Adels gelungen, die Aufhebung der Leibeigenschaft durchzuführen: eine Maßregel, die allein hinreicht, Alexander II. ein aner kennendes Blatt in der Geschichte der Menschheit zu sichern. Aber nicht allein der Widerstand der Bevor rechteten ist es, mit dem der Kaiser bei Durchführung seiner Absichten zu kämpfen hat. Gleich große Sorge macht ihm der Ungestüm der nicht minder mäch tigen und zahlreichen Freunde der Freiheit, die in allen Provinzen des weiten Reiches um so stär ker und kräftiger sich vorfinden, als sie bisher übermäßig unterdrückt worden waren. Dazu komm^ daß die Polen sich nie mit dem Gedanken ver söhnen können, Unterthanen Rußlands zu sein. Ganz Polen ist fortwährend in halber Empörung gegen die russische Herrschaft. In der europäischen Türkei dauern die Kämpfe der. slavischen Chri sten, aufgestachelt durch fremden Einfluß, gegen die Türken mit abwechselndem Glück fort. Der end liche Zerfall des einst so mächtigen türkischen Rei ches naht sichtbar heran, mit ihm aber auch die Aussicht auf einen Kampf der europäischen Groß mächte um das Erbe des Sultans. Dänemark mißbraucht die Gewalt über die ihm durch die deutschen Großmächte überlieferten deutschen Herzog- thümer Schleswig-Holstein mit einem Uebcrmuth, der eine allmäliche Aussöhnung und Verschmelzung ganz unmöglich machtl Verhältnißmäßig am Wenig sten von der allgemeinen Unruhe Europa'» betroffen zeigen fichGroßbritannien, die pyrenäische Halbinsel, Skandinavien und die kleine Schweiz, wiewohl auch in ihnen — um uns einer allgemeinen Redensart zu bedienen — nicht Alles Gold ist, was glänzt. — Gefährlicher noch als in Europa sieht eS in der großen Nordamerika ni- scheu Union auS, in welcher die seit dem Be stehen der Union verhandelte Frage wegen Auf« rrchthaltung der Negersklaverei in den südlichen Staaten durch die Erwählung des republikanischen (sklavcreifeindlichen) Lincoln zum Präsidenten der Vereinigten Staaten diese aus einander riß und einen erbitterten Krieg zwischen dem Norden und dem Süden der Union zum Ausbruch brachte,