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Aller, die vor dem Schlafengehen eine passende Lektüre suchten, — da lag das unvermeidliche Blatt mil der sinnreichen Vignette: dem kleinen Geschöpf — halb Knabe, halb Engel, halb Rococo, halb antik, wieder Zeitgeschmack eS nun einmal wollte — das dem zar ten Lämpchen aus hoch gehaltenem hetrurilchen Gefäß einige Tröpfchen Oel zugoß — vorsichtig, damit das Flämmchen nicht schon vor dem Einschlafen des Le sers erlösche, und wieder, daß es ja nicht etwa eine Flamme gebe, die eine gefährliche Aufregung zur Folge haben könnte — wie fürchtete man damals jede Aufregung! Und doch! doch hatte heute die „Abend zeitung" die aufregendste Wirkung auf Zerbelli — erst durch da-, was sie verschwieg. Er fand nirgend eine Notiz, daß er demnächst die Dresdner in der italienischen Oper mit seinem Gastspiel beglücken werde, — und dann durch das, waS sie sagte. „Ein Bericht, der sich durch alle Nummern der Woche zieht über eine deutsche Oper!" rief er in seiner Entrüstung laut und warf da- unschuldige Blatt, da- gewiß. Weil ihm so etwas selten widerfuhr, an allen Gliedern zitterte, verächtlich zu Boden. Ja er vergaß sich so weit, «S mit Füßen zu treien. Aber die „Abendzeitung" sollte sogleich ihren Retter und Rächer finden. Aus der Mitte der Stamm gäste erbeb sich ein junger Mann, dem man auf dcn ersten Blick die Entschlossenheit ansah. Er wagte es auch neck, sich ä la Sand zu tragen; schwarzen Sammetrock, zurückqeschlagenen Hemdkiagen, langes Haar. Man nannte ihn noch den „Burschenschaftler". Er batte studirt, war aber um seiner deutschen Va- terlandsl-ebe willen relegirt worden und batte sich dem Baufachc gewidmet. Er hieß Hermann Kattner und bielt sich einige Zeit in Meißen auf, wo ibm Verwandte lebten und er dir Gelegenheit benutzte, an dem schönen Dom die reinen Fvkmen des gordischen Baustils zu studiren, lein Herr!" sagte dieser junge Mann zu Zerbelli, „gebrn Sie mir diese Zeitung. Sie ist zum Lr^en und nicht zum Fußabstreichen bestimmt!" Der eben so höfliche als ängstliche W.rlh, in der Furcht, daß hier ein Streit entstehen und ihm, wie er sich gewöhnlich ausdcückte, „die Gäste ver derben" könnte, hob schnell da« Blatt auf und gab es Hermann. Dieser dankte ihm artig, fügte aber laut kinzu: „Es war die Cache dieses Herrn, mir da« Blatt zu geben. Und wenn er uns auch eine Erklärung seines Betragens verweigert, so «ollen wir ibm wenigstens unsere Erklärung geben, daß wir Alle den Bericht, der ihn so aufbringt, mit der größten Freude gelesen haben, und daß es Niemand mehr wagen soll, wälschen Unsinn und Klingklang an dir Stelle einer ächt nationalen deutschen Oper zu setzen. Ja, meine Herren, Deutschland ist in vielen Stücken in erbärmlicher Zerrissenheit und wird wokl so bald nicht einig werden; aber einig wird es sein in dem Jubel, mit dem es die erste wahr haft deutsche Oper aufnimmt: Webers „Freischütz!" „Ja, wenn von dem „Freischütz" die Rede ist," sagte ein zu den Stammgästen gehörender Senator, den es erst doch etwas besorgt gemacht hatte, um die Ruhe der Stadt, in deren Rath er saß, daß in sei ner Gegenwart eine Rede gehalten wurde, die in« Schwarz-roth-goldne schimmerte, „wenn von dem Freischütz die Rede ist, da sage ich Ja und Amen. Ja, mein Herr," wandte er sich an Zerbelli, „ich kann ein Wort mir reden. Ich war bei der ersten Vorstellung, es war am 26. Januar; die zweite Aufführung war am 2. Februar. Morgen ist die dritte. Sie sind ja auf der Reise nach Dresden; da gehen Sie selbst, hinein, dann werden Sie sich nicht mehr wundern, daß der Hofrath Völliger da in der Abendzeitung dem „Freischütz" einige Spalten ge widmet hat." „Ja," fiel ibm ein neben ihm sitzender Kauf- mann in'« Wort, sich gleichfalls gegen Zerbelli wen dend: „Der Herr kann es Ihnen erzählen. E« ist Alles gewesen, wie es dasteht: die Ouvertüre schon ward mit dem stürmischsten Beifall ausgenommen, und nach dem ersten Akt war der Jubel ein noch viel größerer. Kaum batte der Komponist und Ka pellmeister Karl Maria von Weber daS Orchester einen Augenblick verlassen, als sich auf unsichtbare Art ein Lorbeerbaum mir Feston« von Atlasbändern und einer Blumenkrone zu dem Dirizentenpult be wegte und nun tausendstimmiger Jubel das ganze Haus erfüllte." — „Das ist doch Alles nur au« den kleinlichen Motiven geschehen, weil Weber in Dresden Kapell meister ist. Man mußte ihm doch eine Aufmerksam keit erzeigen!" so versuchte Zerbelli zu Worte zu kommen. — „Im Gegenthcil", entgegnete Hermann, „die Dresdner sind Schlasmützen gegen die Berliner. In Berlin war die Aufnahme de« „Freischütz" «ine viel stürmischere, der Enthusiasmus viel lauter als in Dresden!" — „Lassen Sie mich in Ruhe!" sagte Zerbelli mit dem Fuße stampfend. Herr von Neuhof, obwohl sehr uninteressirt bei Theatergespiächen, hatte doch diesem Bespräche mit Aufmerksamkeit zugehört. einmal, weil er keine andere Unterhaltung hatte, und dann, weil er seinem an maßenden Reisegefährten eine kleine Demmhigung