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Eine fromm erzogene Verbrecherin. Es ist schon vielfach die Behauptung ausge stellt worden, die jetzt wieder einmal bei gewissen Leuten so sehr beliebte Frömmelei, die sich statt wahrhafter Veredelung des Herzens nur auf strenge Beobachtung äußerer Gebräuche und auf einen Buchstabcnglanben richtet, der den Geist unbefriedigt läßt, sei vorzugsweise geeignet, Heuchelei und an dere schlimme Dinge zu befördern. Im Sommer 1857 ist in Glasgow in Schottland ein Prozeß vor dem Schwurgericht verhandelt worden, der dieser Behauptung wenigstens nicht widerspricht. Miß Madeleine Smith, ein junges 21- jährigcs Mädchen, die Tochter wohlhabender und angesehener Acltcrn in Glasgow, war wie eine Treibhauspflanze erzogen worden. Ihre Eltern, der presbyterianischen Kirche »»gehörend, ließen sie von einem Geistlichen in der Eingangs gedachten, namentlich auch in Schottland so gewöhnlichen, mehr kirchlichen als religiösen Weise erziehen. Sie wurde nnt presbyterianischer Strenge angehalten, die Gebräuche der Kirche zu halten; vom Bösen sollte sie nichts anderes wissen, als was der Ka techismus davon sagt; sie wurde so viel als mög lich von der Welt entfernt gehalten, um sie vor Befleckung und Verdcrbniß zu bewahren; nicht einmal die Tagcsblätter durfte sie lesen. Und die ses so einfach, so fromm, so still erzogene unschul dige Mädchen stand vor den Geschworenen, ange klagt, ihren Geliebten, einen jungen Franzosen Angelier, mit dem sie in mehr als vertrauten Verhältnissen gelebt, Lurch Arsenik vergiftet zu haben. Der Erfolg der frömmelnden, einsiedlerischen Erziehung, die Madeleine genossen, war noch schlim mer, als es sich von einem so falschen Systeme erwarten ließ. Als sie endlich in die Welt einge- führl wurde, stürzte sie sich kopfüber in den Strudel, von dessen Existenz sie. früher nicht einmal gewußt hatte. Die Treibhauspflanze paßte nicht in die Atmosphäre der Welt und verdarb. ' Schlüpfrige Romane der gemeinsten Sorte traten an die Stelle der frommen Bücher, die allein sie bei dem alten Geistlichen, ihrem Erzieher, hatte lesen dürfen. Sie überholte in ihrer neuen Richtung schnell ihre Freun dinnen, die an „ein Bischen heilsame Vernachlässi gung" gewöhnt waren. Nicht gewöhnt, sich selbst zu behüten, erlag sie der ersten Versuchung, die ihr in der Person des jungen Mannes, wegen dessen Todes sie zur öffentlichen Rechenschaft gezogen wurde, nahe trat. Sie führte von jetzt an cm doppeltes Leben. Von des alten Pastors Hause zurückgekehrt, dem sic seiner zunehmenden Gesichtöschwäche halber theologische Bücher vorgclesen, setzte sie sich nieder und schrieb an Angelier Briefe, deren sich die ver worfenste Straßcndirne schämen würde. An ihrer Schuld kann wohl niemand zweifeln, der nur einige dieser Briefe gelesen hat. Angelier war ihr lästig geworden, weil er diese Briefe nicht-hcrausgcbcn und auf die Ansprüche nicht verzichten wollte, die sie selbst ihm eingcräumt hatte. Die Herrschaft aber, die sie über sich selbst gewonnen, trat während der öffentlichen Gerichtsverhandlung in einer Weise zu Tage, welche sie zum Gegenstand der allgemei nen Aufmerksamkeit machte. Kaltblütigkeit an sich spricht weder für Schuld »och für Unschuld; aber die cigenthümliche Natur ihrer Kaltblütigkeit hat viele Beobachter bestimmt, den zweifelhaften Aus spruch der. Geschworenen: „Nicht bewiesen!" zu mild zu finden. Wir müssen hier cinschalten, daß, wäh rend nach dem englischen Gerichtsverfahren der Wahrspruch der Geschworenen nur „Schuldig" oder „Nichtschuldig" sein darf, Las schottische Gerichts verfahren noch einen dritten, fast hätten wir gesagt unvernünftigen, Wahrspruch zuläßn „Nicht bewie sen" — ein Wahrspruch, nach welchem der, Ange klagte weder eigentlich frcigesprochen, noch verur- thcilt werden kann; man läßt ihn eben laufen, bis sich vielleicht späterhin einmal überzeugendere Be weise finden. — Durch nichts vcrriclh Madeleine Smith während der ganzen mehrtägigen Dauer der Verhandlungen irgend eine Empfindung, abgesehen von einem nervösen Zittern der Mundwinkel, das zu unterdrücken ihr nicht immer gelang. Die Bc- rcdtsamkcit des Anklägers machte sie nicht erbleichen; festen Auges sah sie dem Gerichtsschrciber ins Ge sicht, während er ihre skandalösen Briefe vorlas; die pathetische Schlußrede ihres Vcrtheidigers trieb Thräncn in manches Auge, nicht in das ihrige, und die Verdammung ihrer zügellosen Wollust aus dem Munde des Vorsitzenden Richters brachte keine Schamrölhe auf ihre Wangen. Während der drei letzten Tage war ihre blühende Farbe etwas erbli chen, trat sic nicht ganz mit der muntern Haltung ein, legte sic ihr Luftkissen und ihr Kleid nicht ganz mit derselben Sorgfalt zurecht wie am Beginne der Sitzungen. Aber nach wie vor plauderte sie heiter mit ihren Anwälten, saß sie den ganzen Tag auf der Bank der Angeklagten, ohne sich nur zu rühren oder nur xin Glas Wasser zu genießen, sah sie mit derselben Sicherheit auf das Publikum, senkte sie nie den Kopf, blieb ihr Auge trocken, selbst als der Staatsanwalt, von dem Schicksale ihrer Fa milie sprechend, ein Zittern der Stimme nicht un-