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Der Steiger von Wiesenthal. (Vaterländische Erzählung aus dem dreißigjährigen Kriege.) Kann eine Mutter auch ihres Kindes vergessen ? 'fragt die Schrift, und mit gleichem Rechte mag man auch die Frage stellen: kann ein Kind auch seiner Mutter vergessen? Mag die Antwort hierauf in. der großen Welt lauten, wie sie will, in der kleinen Welt, die der Keil-, Fichtel- und Eisenberg umschließen, gilt solches Vergessen für unmöglich. Darum vergißt auch Oberwiesenthal seiner Mutter Joachimsthal nicht, obschon Schlagbäume und die dunkle Kluft des Glauhenszwiespaltcs seit zwei Jahrhunderten Mutter und Kind von einander getrennt halten. An jenem Scptembertage des Jah res 183V, da der junge Steiger Anton Sclrmann von Oberwiesenthal sich anschicktc, mit 30 seiner Kameraden gen Joachimsthal zn ziehen, um dem festlichen Scheibenschießen der dortigen Schützen gilde beiznwohncn, war die gedachte Kluft nur erst im Entstehen, d. h. der Kaiser Ferdinand der Zweite hatte »ach der unglücklichen Böhmenschlacht auf dem weißen Berge den Joachiursthalern gleich anderen Bewohnern Böhmens ««befohlen, nach hundertjährigem Festhalten am Evangelium wieder Das als einzigen Weg zum Heile anzunehmeisi was der Papst zu Rom dafür ausgab; allein daS Volk der treuen Bcrgstadt hatte gedacht, Gott mehr gehorchen zu müssen als den Menschen, und ob die apostolische Majestät auch schrecklich dräuete, fa Kommiffarien sandte mit Jesuiten und Muske tiere» im Gefolge, ob die Jesuiten noch so fein predigten, Li» Kommissarien noch so scharf spürten, und die Kriegsknechte, die den Bürgern in die Häu ser gelegt wurden, noch so viel Uebermnth übten; der größere Theil der Bürgerschaft, insonderheit die Bergknappschaft, blieb dem Lichte treu. Und als echtes Berzmannsblut hatte sie sich unter allen, Kreuz und Leid soviel guten Muth bewahrt, daß sie »rwähnres Scheibenschießen austellle, obschon die Erlaubniß dazu von den kaiserlichen Kommissarien mit schwerem Geld« mußte erkauft werden. Alle Nachbarorte wurden zur Theilnahmc daran einge- ladcn und das innig befreundete Wiesent Hal dabei am wenigsten vergessen. Als Anton Seltmann iu seinem besten Bcrg- mannsstaate, das gewaltige Feuerrohr auf der Schulter, van seiner Mutter Abschied nehmen wollte, trat der Bruder derselben in die Stube und rief nach raschem Glückauf dem Scheidenden zu: Warte »och ein Weilchen,Anton! Vielleicht bannst Du Dich eines Andern, wenn Du meine Zeitnng vernommen." Der Angcredctc stutzte und forschte nach dem Inhalte der Zcilung. „Laß mich nur erst zu Odem kom men!" erwiedcrte der Oheim— „ich bin gelaufen lvie besessen, nm Dich noch anzutrcffen, da ich wohl wußte, daß Du mit nach Joachimsthal wolltest!" ,, So mach' hurtig !" drängte der Neffe unge duldig — „die Anderen sind schon voraus und erwarten mich auf dem Sonncuwirbcl." „Sie thäten alle besser, wieder umznkchren" — versetzte derBstcnmann, sein Reff ablegcnd — „ eö ist jetzt für keinen Sachsen mehr geheuer jcn- seit der Grenze, denn wisset, unser Kurfürst hat sich mit dem Schwedcnkönig und den anderen evangeli schen Fürsten verbündet." — „Alle Wetter! ist das wahr?" rief der jung« Steiger. „Hätte unser gnädigster Landesherr end lich den Wunsch seines Volkes erfüllt?" In Annaberg sinh amtliche Nachrichten über das Ereigniß eingetroffen" — versicherte der Be richterstatter — „das grauenvolle Schicksal der edlen Stadt Magdeburg durch den Mordbrenner Tilly mag unserm Kurfürsten über die wahren Ab sichten des Kaisers die Augen geöffnet haben; wie er den Verwüster von Magdeburg dem Meißnischen zuzichen sah, hat er seine Truppen alsbald zu den Schweden und Brandenburgern stoßen lassen. Wahr scheinlich ist cs gestern schon zu einem Treffen mit den Kaiserlichen gekommen, denn in Annaberg hat man von Leipzig her den ganzen Tag Kanoneu donner vernommen." — „Juchhe!" rief Anton entzückt — „war das Eure Zeitung? Dann gehabt Euch wohl!" „Wie! Du willst doch noch fort?" fragte die Mutter besorgt. „Keine Macht hält mich zurück!" erklärte Jener. — „Mir ist, als müsse ich durchaus den großen Preis gewinnen! Welche Gefahr seht Ihr denn dabei? Sind der Kaiser und unser Kurfürst keine Freunde mehr, so haben darum doch ihre Un terthemen an der Grenze nicht aufgehört, cS zu sein." Damit stürmte er fort und seinen Genossen nach. — Was aber de» muntern Bergmann so mächtig nach Joachimsthal zog, war weder die Hoffnung auf den ausgesetzten Schußpreis, noch die freund nachbarliche Gesinnung allein, sondern weit stärker trieb ihn das unaussprechliche Gestühl dahin, wel ches am letzten Wiesenthaler Bergfeste eine schöne Neuer Kalender G