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Der Sultan Abdul-Medschid nach dem neuesten Portratt. (Mit Abbildung.) Am I. Juli 1839 blieb das schwarze Kamecl, das von Thür zu Thüre zieht und uiedcrkniet, — der Tod — vor dein Kiosk von Tchamlidja ftchcn. Dort starb, sechs Tage nach der gänzlichen Nieder lage seines Heeres bei Nezib, der Sultan Mahmud II. an dem Anfall eines Uebels, welches die Acrzte, sei es aus Unkcnniniß, sei es aus politischer Täu schung, Anfangs tuberculosc Phthisis (Lungen schwindsucht) genannt hatten, welches aber der Ul'. Millingen, Byron's alter Arzt, ohne Weiteres als Delirium tremeiw erkannte, die häufige Folge und der bestimmte Ausgang vom Ucbcrmaßc des Ge nusses alkoholhaltiger Getränke. Der Padischah hatte 54 Jahre gelebt und 31 regiert. Abdul-Medschid, berufen die gefahrvolle und schwierige Folge auf den kaiserlichen Thron anzu treten, war der 21. Sohn des verstorbenen Sultan's. Am 19. April 1823 in Constantinopel geboren, hatte er eben sein 16. Jahr vollendet. Seine Kindheit war gewesen wie die aller Fürsten seines Stammes. Vorzeitig genossene Freuden und die vergoldete Abgeschiedenheit des Serail waren bis dahin seine einzige Vorbereitung auf den Thron gewesen. Mit zehn Jahren, sagt ein Reisender, erhielt er von seiner Mutter — ein höchst charak teristischer Zug — zwei schöne circassische Sklavinnen als Weihnachtsgeschenk. — Der alte Khosrew und Halil, der Schwager des neuen Herrschers, waren die Ersten, die ihm die Nachricht brachten und ihm, zum Zeichen seiner Erhöhung, den Pantoffel küßten. Er eilte mit ihnen in das Innere des Kiosk, wo, noch warm, die Ucberrcstc des Reformators lagen, und dort, während die Diener der Religion den Leichnam wuschen, empfing der neue Sultan die Glückwünsche der Leute seines Hauses unter Thräncn, die aber bei der Nothwendigkcit zu handeln, schnell versieg ten. Er unterzeichnete die Ernennung Halil's zum Scraskier (Befehlshaber der Truppen), und die Khosrcw's zum Großvezier. Hierauf wurden die Pforten geöffnet: Abdul-Medschid trat aus dem Kiosk und stieg in einen mit acht Pferden bespann ten Wagen, welcher ihn, mitten unter dem Zuruf der Truppen, die in Schlachtordnung auf seinem Wege aufgestellt waren, an die Stufen von Harem- Skclessi beachte, wo er ein Galafahrzcug bestieg, um in dem Palaste Top-Kapu vom Throne seiner Väter Besitz zu nehmen. Er empfing dort die Huldigung der Großwürdenträger, und zu gleicher Zeit hallte in ganz Constantinopel aus dem Munde der öffentlichen Ausrufer, und beim Donner der Artillericsalven von allen Batterien der Forts und des Hafens, die geheiligte Formel wieder: „Se. Hoheit unser glorreicher Herr und Gebieter, Sultan Abdul-Medschid ist auf den Thron gestiegen! Gott wolle seine Regierung zum Glücke seines Volkes machen!" In Frankreich rief man sonst bei gleichen Veranlassungen: „der König ist todt; es lebe der König!" In der Türkei wird blos Las Leben erwähnt, der Tod bleibt weg und wird nur mit darunter verstanden: Alles, was die Erinnerung an ihn und sein Bild erneuert, wird wie unglück weissagend beseitigt. — Diese Regierung, welche in den Annalen des ottomanischen Volkes sich wirklich auszcichnen sollte, begann unter traurigen Aussichten und Vorbedeutungen. Am 5. Juli er fuhr man zu Constantinopel die Niederlage und die-gänzliche Zerstreuung der Armee von Hafiz und die Eroberung des Lagers bei Nezib nebst dem ganzen Kriegsmaterial der vernichteten Armee durch Ibrahim Pascha und seine Aegypter, die den Taurus zu überschreiten marschfertig waren. Ain über nächsten Tage kam die Nachricht von dem Abfall der Flotte hinzu, die von Achmed-Fcwsi-Pascha, der ein gcschworncr Feind Khosrew's war und von der wohlbekannten Rachsucht des alten Großvczier's Alles fürchtete, nach Alexandrien geführt und dem Pascha von Aegypten überliefert worden war. Ein kühner Handstreich konnte den mächtigen Vasallen der hohen Pforte zum Herrn von Constantinopel, zum Gebieter über Land und Meer machen. Ferner, La die Convention von Unkiar-Skelcssi Rußland ein Protcctoratsrecht über das Reich gab, und da die Umstände die Ausübung dcS bedrohlichen Rech tes rechtfertigten und heransforderten, so konnte man, ohne gerade dem Pessimismus zu huldigen, den Tag yerannahcn sehen, wo der neue Thron, zwiefach in Schach gehalten, cingeschlosscn, und zwischen den Streitkräften des Czarcn und denen Mehamct - Ali's zermalmt werden würde. Glück licherweise hielt cs Rußland damals nicht für klug oder zuträglich, von seinem ausschließlichen Pro tektorate Gebrauch zu machen; Europa vermittelte, und die Diplomatie verwirrte die Verhältnisse so vollständig, daß Ibrahim die Vorthcile seines ge nannten Sieges nicht verfolgen konnte, und daß Las Reich anfathmele. So beunruhigend diese Lage war, so hielt sie 4*