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Der Kampf zlveier Welten in Rußland. Dir rasch hintereinander stattgesundenen Attentate zweier russischen Studenten auf die geistigen offiziellen Führer in Rußland, aus den feiner Wunde erlegenen vorigen Unterrichtsminister und auf den unversehrt gebliebenen Vorsitzenden des heiligen Synod, das ist der oberste russische Kirchenrath, haben die Augen der gebildeten Welt wiederum auf die inneren Zustände Rußlands gelenkt. Die geistige und religiöse Bildung im Czarenreiche krankt seit Jahrzehnten an Erb-Uebeln und unüberbrückbaren Gegensätzen und ist Vieser Zustand so einzigartig und so echt russisch, daß er mit keinen Verhält nissen in irgend einem Lande oder in einer Kirche verglichen werden kann. Während in der russisch orthodoxen griechisch-katholischen Kirche die christ lichen Heilswahrheiten der Menschenerlösung durch die Gnade Gottes und das Opferwerk dcS Heilandes mit einem finsteren Aberglauben und einem geistigen Tiefstand des Volkes unheilvoll verbunden sind, huldigt der wirklich gebildete Theil der Russen, die ja auch vielfach in Deutschland, Frankreich, der Schwei; und in Italien ihre Studien gemacht haben, westeuropäischen Anschauungen. Die letzten Unthaten gegen die offiziellen geistigen Oberhäupter in Rußland sind deshalb auch kein Auslodern deS alten russischen durch und durch revolutionären Nihilismus, sondern sie sind die brutale Regung einer russischen Reformpartei gegenüber der in Rußland noch in trauriger Biüthe stehenden Intoleranz, die durch die Ausstoßung des als Mensch und Dichter in weiten russischen Volks kreisen und bei Hoch und Niedrig verehrten Grasen Tolstoi einen neuen Beweis ihrer unerschütterlichen Macht gab. Es sei dabei betont, daß Graf Tolstoi kein Gottesleugner ist, er verlangt viel mehr in letzter Linie eine Behandlung und Be- urtheilung aller Menschen nach echt christlicher Nächstenliebe, und er übt selbst unermüdlich die Wohlthätigkeit, aber Tolstoi hat in seiner scharfen Art und Weise die russische Gesellschaft, die russische Rechtspflege, die Unwissenheit des Volkes und die Mängel und Einseitigkeit der orthodoxen russischen Kirche einer unerbittlichen Kritik unterworfen und dafür wurde er vom heiligen Synod excommunicirt. Vom Standpunkte der russischen Staatsweisheit, die >n erster Linie die ungeheuer großen unteren Bolksmassen frei von jeder revolutionären Ein wirkung in den alten unwissenden und unfreien Zuständen erhalten wissen will, damit nicht eine tosende Völkerbrandung im Czarenreiche entsteht, ist dieser Schritt wohl zu verstehen, aber er zeigt uns zugleich die russische Geisteskultur in einer Schwäche, daß man dadurch geradezu an eine alte vergangene Welt erinnert wird, während in Ruß land die neue geistige Welt noch keine wirkliche Macht hat. Sie wird es deshalb auch so leicht nicht dahin bringen, den russischen Staat, sei es durch Reform oder Revolution umzuwandeln, denn dazu ist das Militär- und Polizei-Regiment in Rußland zu fest und streng und die Volksmassen zu ungebildet. Aber weiter sortflackern wird der Kampf zweier Welten in Rußland und wird in extremen Fällen zu blutigen Attentaten führen, die zwar immer verabschcuungswürdig bleiben, aber wegen des Mangels eines Parlaments und einer freien Presse in Rußland sich als eine brutale Opposition gegen die alten Mißstände charakteristren. Politische Wcllschau. Wenn der Kaiser in seiner an das Kaiser Alexander-Regiment gehaltenen Ansprache wirklich die drohende Wendungen von den Bajonetten gebraucht haben sollte, mit denen das Alexander- Regiment eine etwaige neue Revolte der Stadt Berlin gegen den König niederschlagen würde, wir dies in mehreren Lesarten dieser abermaligen Kundgebung deS Monarchen behauptet worden ist, so würde sich daS große Aufsehen, welches dieselbe allenthalben erregt, durchaus begreifen. Vorerst fehlt eS aber an einer authentischen Mittheilung über die betreffenden kaiserlichen Aeußerungen, und so erscheint denn eine gewisse Reserve in deren Beurtheilung noch geboten. Immerhin scheint wenigstens festzustrhen, daß der Kaiser in seiner er wähnten Rede die Möglichkeit einer Wiederkehr der Straßenrebellion aus den Märztagen des „tollen Jahres 1848* tn Berlin angenommen hat, diese Andeutung klingt in allen bis jetzt verbreiteten Lesarten der Rede wider. ES ist schwer erfindlich, waS den erlauchten Monarchen bewogen haben mag, gerade jetzt seiner Besorgniß wegen einer etwaigen abermaligen Straßenrrvolution in der heutigen Rrichshauptstadt Ausdruck zu verleihen, um hieran eine offenbare Drohung gegen die Der sächsisch« Erzähler. Gelte ». Berliner Bevölkerung zu knüpfen. Denn obschon gewiß nicht geleugnet werden kann, daß in Berlin ebenso gut wie anderwärts im Reiche in weiteren Kreisen eine gewisse Unzufriedenheit mit dem Entwickelungsgang unserer inneren Politik, hie und da wohl auch mit demjenigen der auswärtigen Politik herrscht, so ist doch trotzdem gewiß nicht im Ernst daran zu denken, daß sich der vor handene Mißmuth in der Nation in eine bewaffnete Erhebung gegen den Kaiser und seine Regierung umsetzen könnte; schlimmstenfalls würden vielleicht die ReichStagSwahlen einmal überwiegend im oppositionellen Sinne ausfallen. Man kann sich daher die Aeußerungen deS Kaisers gegenüber dem Alexander-Regiment wie schon seine voran gegangenen Auslassungen beim Empfang der Präsidien des Reichstages und deS preußischen Abgeordnetenhauses einstweilen nur dadurch er klären, daß der hohe Herr zur Zeit unter dem Eindrücke einer seelischen Verstimmung steht, die ihre Wurzel vermuthlich nicht lediglich in dem beklagenswerthen Vorfall in Bremen besitzt. Sicherlich wünsche.! da alle patriotischen Deutschen nur aufrichtigst, daß diese den erhabenen Schirm herrn des Reiches muthmaßlich beeinflussenden Empfindungen bald wieder verschwinden mögen, um dem alten vollen Zutrauen zu seinem Volke Play zu machen. In weiteren rednerischen Kund gebungen anläßlich des erfolgten Umzuges des Alexander - Garde - Grenadier - Regiments in seine neue Kaserne hat der Kaiser u. A. auch der alten traditionellen Beziehungen zwischen dem deutschen Kaiser- und preußischen Königshause und dem russischen Herrscherhause Erwähnung gethan, davon ausgehend, daß die russischen Kaiser die Chefs des preußischen Alexander-Regiments seit Langem sind. Mit Genugthuung kann man nur die hierbei abgegebene Versicherung des Kaisers begrüßen, daß er, soweit es an ihm allein liege, dieses gute Verhältniß stets aufrecht erhalten werde, denn gewiß bedarf der Hinweis der Noth- wendigkeit freundschaftlicher Beziehungen zwischen Deutschland und Rußland keiner näheren Aus führung, dieselben liegen ja im wohlverstandenen Interesse beider Staaten. Prinz Adalbert von Preußen, der dritte Sohn des Kaiserpaares, hat seine Abschlußprüfung in der Plöner Kadettenanstalt gut bestanden. Am Sonnabend Abend traf er mit seinem Bruder, dem Prinzen Eitel Fritz, aus Plön in Berlin ein. Die an sich schon wenig glaubwürdigen Ge rüchte von einer angeblich bevorstehenden Ver lobung des deutschen Kronprinzen mit dieser oder jener Prinzessin werden jetzt von der „Nordd. Allg. Ztg." in aller Form als un begründet bezeichnet. Zu den umherschwirrenden Krisengerüchten nehmen jetzt auch die „Berl. Pol. Nachr.", das journalistische Sprachrohr des Finanzministers vr. v. Miquel, das Wort. Das offiziöse Blatt bezeichnet die umlaufenden Nachrichten über be vorstehende Aenderungen in der Zusammensetzung des preußischen Staatsministeriums als haltlos und erklärt ausdrücklich bezüglich des Herrn v. Miquel, daß an dem Gerücht, er wolle im kommenden Mai zurücktreten, kein wahres Wort sei. Das preußische Herrenhaus hat am Donnerstag und Freitag glatt und rasch den ge- sammten Staatshaushaltetat erledigt, und sich am Schluffe der Freitagssitzung, nach Genehmigung deS Etatsgesetzes, wieder auf unbestimmte Zeit vertagt. Der dem Bundesrath vorliegende Entwurf von Bestimmungen über die Beschäftigung von Gehilfen und Lehrlingen in Gast- und Schankwirthschasten sieht 8- bezw. 9stündige Arbeitszeit vor und bestimmt ferner: Gehilfen und Lehrlinge unter 16 Jahren dürfen von 10 Uhr Abends bis 6 Uhr Morgens nicht beschäftigt werden, solche weiblichen Geschlechts unter 18 Jahren, die nicht zur Familie deS Arbeitgebers gehören, dürfen nicht zur Bedienung der Gäste verwendet werden. Als Gehilfen und Lehrlinge im Sinne deS Ent wurfes gelten solche Personen männlichen und weiblichen Geschlechts, die al» Oberkellner, Kellner oder Kellnerlehrlinge am Buffet oder mit dem Fertigmachen kalter Speisen beschäftigt werden. Die Bestimmungen sollen am 1. Oktober 1901 in Kraft treten. Großhrrzog Wilhelm Ernst von Sachsen-Weimar traf in der weiteren Fort setzung seiner Rundtour an den deutschen Höfen am Nachmittage de» 29. März, von Stuttgart kommend, in Karlsruhe ein. Der Erbgroßherzog von Baden empfing im Auftrage de» Großhrrzog» Friedrich den hohen Vast auf dem Bahnhofe und geleitete ihn zu Wagen nach dem Restdenzschloffe, wo Abend» Hoftafel stattfand. LG«. In Hessen ist zwischen beiden Häusern de» Landtages ein Konflikt wegen der Frage der ReichStagSdiäten entstanden. Die Erste Kammer hat es abgrlehnt, dem Beschlüsse der Zweiten Kammer beizutreten, welchem zufolge die hessische Regierung ersucht wird, ihren Bevollmächtigten zum BundeSrath für ein Eintreten zu Gunsten der Gewährung von Diäten an die ReichStagS- abgeordneten zu instruiren. Uebrigru» genehmigte die Zweite Kammer nach viertägigen lebhaften Debatten den Antrag Haas, der sich für eine aus reichende Erhöhung der Zölle für sämmtltche londwirthschaftliche Produkte, ober auch zu Gunsten eines genügenden Zollschutzes für bedürftige Indu striezweige ausspricht, gegen 5 Stimmen. Die Spektakelszenen im österreichi schen Ab geordneten Hause gehen nach kurzer Ruhepause wieder weiter. In der Freitagssitzung des Hauses kam eS bei Berathung des Berichtes des Verfassungsausschusses über die Disciplinirung deS sozialdemokratischen Wiener Abgeordneten und Lehrer Seitz zu stürmischen Auseinandersetzungen zwischen der alldeutschen Gruppe und der christ lich-sozialen Fraction, die in einen von den All deutschen verübten gewaltigen Lärm mit den Pult deckeln übergingen. Der Rest der Sitzung verlief indessen wieder ruhig. Die von der belgischen Regierung ge plante Wieder-Uebernahme des Congostaate» durch Belgien wird wohl ein frommer Wunsch bleiben. Die Rechte der belgischen Deputirten- kammer sprach sich in einer am Freitag Nach mittag abgehaltenen Vollversammlung einstimmig wenigstens gegen eine sofortige Uebernahme des Congostaates aus; der Regierung wird demnach kaum etwas anderes übrig bleiben, als die hierauf bezügliche Vorlage wieder zurückzuziehen. Die durch mehrere Wochen hindurchgegangene Spezialberathung deS anticlericalen Vereins gesetzes in der französischen Depu- tirtenkammer ist vorige Woche endlich zum Abschluß gelangt; am Freitag wurden auch die letzten Kapitel der Vorlage genehmigt. Die Ver suche der vereinigten oppositionellen Gruppen der Deputirtenkammer, das Vereinsgesetz zum Scheitern und hiermit zugleich das Ministerium Waldeck- Rousseau zu Fall zu bringen, sind demnach er folglos geblieben. Zwischen Frankreich und Italien sollte angeblich ein Abkommen über eine Theilung von Tripolis getroffen worden sein. In der Freitags- sitzung der italienischen Deputirtenkammer erklärte jedoch der Minister des Auswärtigen aus eine Anfrage hin, dies Gerücht entbehre jeder Be gründung. In der Türkei dauern die Verhaftungen von Bulgaren, welche revolutionärer Ge sinnung verdächtig sind, fort. In Bilazet Monaster wurden sogar ganze Ortschaften mit fast rein bulgarischer Bevölkerung von einem Militärcordon eingeschlossen. Der siebenjährige Erbprinz Boris von Bulgarien ist von seiner langen und schweren Erkrankung wieder genesen. Am Sonnabend traf er in Begleitung seines fürstlichen Vater» in Nizza ein, um sich dort zu erholen. In Serbien soll schon wieder der Ausbruch einer Ministerkrisis bevorstehen. Am 29. März haben in ganz Australien zum ersten Male die Wahlen zu dem neuen australischen Bundesparlament in Melbourne statt gefunden. Dieselben ergaben für das Abge ordnetenhaus eine starke fchutzzöllnerische Mehrheit. Die den Amerikanern durch eine List ge lungene Gefangennahme Aguinaldo's, deS obersten Befehlshabers der Philippiner, ist gewiß ein bemerkenSwerther Erfolg der amerikanischen Waffen im Philippinenkriege. Ob er jedoch die Beendigung desselben nach sich ziehen wird, da» bleibt wohl noch abzuwarten. Berlin, 31. März. Der Kaiser empfing heute Mittag das Präsidium deS Herrenhauses. Berlin, 31. März. Ein parlamentarischer Berichterstatter meldet: Bei dem Empfang de» Präsidiums de» Herrenhauses durch den Kaiser sprach der Vizepräsident v. Manteuffel die Glück wünsche de» Hauses zur Errettung aus Lebens gefahr au». Der Kaiser bat da» Präsidium, dem Herrenhaus für die Glückwünsche zu danken und führte ungefähr Folgende» au»: Er habe seine Sinnesart infolge de» Bremer Vorfälle» nicht ge ändert. Er stehe in Gotte» Hand, verfolge seine Ziele unentwegt und werde für da» Wohl de» Baterlande» nach seinen Kräften weiter wirken. Stettin, 30. März. Rach dem Stapellauf de» Schnelldampfers „Kronprinz Wilhelm* wurde an Se. Maj. den Kaiser folgende» Telegramm vom „Norddeutschen Lloyd* und vom,Bulcan*