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Iden Ministerwechsel in Belgrad wesentlich ver änderten Beziehungen zu Serbien. Bon öfter- reichischer Seite wird sicher Alles aufgewendet werden, zu stabilen Handelsbeziehungen zn Deutsch land dadurch zu gelangen, daß an die Stelle des Ende dieses Jahres ablausenden Meistbegünstigt ANgsvertrages ein richtiger Handelsvertrag gesetzt wird. Die Aeußerungcn, welche seitens der Re gierungsvertreter gerade während der jüngsten Session des deutschen Reichstages bezüglich neuer Zollerhöhungen für Getreide und andere Artikel gemacht wurden, lassen aber kaum erwarten, daß die österreichischen Unterhändler in Berlin mit ihren Wünschen geneigtes Gehör finden werden. In Bezug auf das neue serbische Ministerium tröstet man sich in Wien damit, dass Ristics zwar freundliche Beziehungen zu Rußland an strebe, es aber keineswegs mit Oesterreich ver derben wolle. Nichtsdestoweniger steht fest, daß der Sturz des Ministeriums Garaschanin haupt sächlich durch die finanzpolitischen Beziehungen zu Oesterreich herbeigeführt wurde und daß eine Fortsetzung der letzteren deshalb unmöglich in der Absicht des jetzigen serbischen Cabinets liegen kann. Die ungarischen Reichstagswahlen er gaben einen großen Sieg der Liberalen, d. h. also der Anhänger des Ministerpräsidenten Tisza. Von den bisher bekannten 402 Wahlen entfallen 257 auf Vie liberale Partei, 41 auf die gemäßigte Opposition, 75 auf die Unabhängigkeits-Partei, 9 auf die Parteilosen, 9 auf die Nationalen, 11 auf die Antisemiten. In 6 Bezirken sind Stich wahlen, in einem eine Neuwahl erforderlich. Die Liberale Partei hat 52 Bezirke gewonnen, 28 verloren, die äußerste Linke 25 Sitze gewonnen und 22 verloren, die gemäßigte Opposition 9 Sitze gewonnen und 23 verloren, die Parteilosen büßten 4, die Nationalen 4 und die Antisemiten 4 Bezirke ein. Die Freude der ungarischen Re gierungspartei über diesen überraschend günstigen Wahlausfall ist aber vielfach getrübt worden durch häßliche Aufruhrscenen mit Blutvergießen und Brandstiftungen, zu welchen die Parteileidenschaft die unterlegenen Fraktionen oder doch einen Thcil der von ihnen aufgestachelten Bevölkerung hinriß. Da in letzter Zeit die Gichtanfällc des ita lienischen Ministerpräsidenten Depretis einen sehr heftigen Character angenommen haben und der greise Staatsmann bei der Nn.nöglicht^u, feste Nahrung zu sich zu nehmen, seine Kräfte immer mehr verfallen sieht, scheint der baldige Rücktritt desselben unvermeidlich. In den Kreisen der italienischen Abgeordneten hält man cs für unmöglich, daß Depretis die Geschäfte noch länger fortführt und sieht man bereits in Crispi seinen geeignetsten Nachfolger, zumal wenn es demselben gelingen sollte, sich wieder mit seinen ehemaligen Freunden Nicotera und Rudini zu versöhnen, die noch in der Opposition verharren. Bei den tief ernsten und hochwichtigsten Fragen, die jetzt in Italien ihrer Lösung harren, können die bisherigen kleinlichen Fractionsunterschiede solcher durch die Verhältnisse dringend gebotenen Verständigung kaum hinderlich sein. Auf die Mehrheit der Franzosen scheint das Urtheil des Reichsgerichts zu Leipzig in dem Proceß gegen die acht Elsässer einen sehr er bitternden Eindruck gemacht zu haben. Die Patriotenliga forderte den Präsidenten Grövy in ziemlich energischer Weise auf, sich für die verurtheilten Elsässer zu verwenden und ist dieser Schritt vielleicht nicht ganz erfolglos geblieben. Das Journal „Paris" erzählt wenigstens, der radikale Deputirte Dreyfous habe in der Kammer die Bestrafung der in Frankreich lebenden Aus länder, welche Mitglieder eines im Auslande bestehenden feindseligen Vereins sind, beantragen wollen, sei aber durch den Minister Flourens bewogen worden, die Einbringung zu vertagen, da die Regierung bereits Schritte zu Gunsten der Verurtheilten gethan habe. Die Bestätigung dieser Nachricht dürfte abzuwarten sein. Jeden falls mehren sich in Frankreich die Gehässigkeiten gegen die Deutschen mit jeder Stunde. So be schloß der Pariser Gemeinderath, den Seine- präfectcn zu ersuchen, sofort sämmtliche durch die Verwaltung beschäftigten Deutschen zu entlassen, eine Maßregel, welche ausschließlich arme Elsässer treffen würde. Die jetzige Stimmung in Paris ist einer raschen Erledigung des neuen Militär gesetzes durch die Deputirtenkammer außerordentlich günstig. Die Rechte der Kammer leistet dabei der republikanischen Regierungspartei in sehr ent gegenkommender Weise Beistand und wird wohl auch noch ihre jetzigen Bedenken gegen die außerdem von dem Kriegsminister Ferron eingebrachten, vier militärischen Entwürfe besiegen, die von dem rfriegsrathe gebilligt wurden und deren An nahme von dem Ministerium Rouvierzur CabinetS- frage gemacht werden dürfte. Bei dem 50jährigen Regierungsjubiläum der Königin von England offenbarte sich die kräf tigste monarchische Begeisterung der britischen Nation, welche das Interesse an allen anderen politischen Dingen in den letzten Tagen vollständig in den Hintergrund drängte. Die Festlichkeiten, zu denen sich ein großer und auserlesener Kreis fremder Monarchen und fürstlicher Vertreter europäischer Regentenhäuserin London eingefunden hatte, verliefen wahrhaft glanzvoll. Allen Theil- nehmern wird der am Dienstag stattgefundene Jubiläumszug vom Buckingham-Palast nach der Westminster Abtei und der Dankgottesdienst in dieser altgeschichtlichen Kirche unvergeßlich bleiben. Die übrigen Veranstaltungen, die wiederholte Illumination der Riesenstadt an der Themse, die Speisung der Schulkinder, die Parade zu Alder- schot u. A. m. machten darnach einen weit mäßigeren Eindruck, obgleich sich auch hierbei viel Enthusiasmus kund gab. Sowohl auf der Balkanhalbinsel wie in Mittelasien erregt die russische Agitation ernste Besorgnisse. Durch die Thatsache, daß die Russen südlich von Tschardschui eine Bahnstrecke bis Khamiab abstecken, gewinnt die Ueberzeugung an Boden, daß es auf die Einverleibung des afghanischen Turkesta» abgesehen ist. Nicht minder bedenklich scheint der Einfluß, den die Politik des Czaaren neuerdings in Belgrad gewonnen hat und der einen Ersatz für das in Bulgarien Ver lorene bieten zu sollen scheint. Die Ernennung des von Oesterreich mit großem Mißtrauen be trachteten Russenfreundes Sawa Gruics zum Kriegsminister zeigt deutlich genug den Grund- character des neuen Cabinets Ristics. Um so auffallender ist es, daß König Milan von Serbien den Muth hat, bei der jetzt in seinem Lande herrschenden Aufregung Belgrad auf längere Zeit zu verlassen und sich über Wien zu einem mehrwöchigen Curgebrauch nach Gleichenberg zu begeben. ,Der bulgarische Regent Stambulow reiste in Begleitung des Ministers Jwantschow nach Tirnowa, wohin i» der nächsten Zeit die große Sobranje einberufen wird. Damit dürfte auch binnen Kurzem die bulgarische Anaeleaenbeit wicbk-r aus oer ragespounschen Bildfläche erscheinen. Das von russischer Seite verbreitete Gerücht, das Stambulow durch eine Verschwörung seiner Mit regenten bedroht sei, hat sich bis jetzt nicht be stätigt, doch pflegen gewisse Ereignisse ihre Schatten vorauszuwerfen und wird auch von anderer Seite das nahe Bevorstehen merkwürdiger Uebcrrasch ungen in Bulgarien allen Ernstes angekündigt. Als Anfangstermin für die Sommerreisen des Kaisers sollen jetzt die Tage vom 2. bis 4. Juli in Aussicht genommen worden sein. — Die Rückkehr des Kronprinzen nach Berlin wird erst im Spätsommer erwartet. Der Kaiser hat das Branntweinsteuer - gesetz am 24. d. vollzogen. Im Reichsgesetzblatt ist das Gesetz veröffentlicht worden. Ein Betrag von 100 Millionen Mark 3^ prozentiger deutscher Reichs-Anleihe soll dem nächst zur öffentlichen Subskription aufgelegt werden. Der bairische landwirthschaftliche Verein hat sich, wie schon mitgetheilt, für Annahme des neuen Branntweinsteuergesetzes und Aufgabe des bairischen Rerservatrechtes ausgesprochen. Damit kann diese ganze Frage als entschieden erachtet werden. Der Verein, dem Mitglieder der königl. Familie und der Regierung angehören, führt in landwirthschaftlichen Angelegenheiten in der Regel die leitende Stimme, und ebensowenig wie die bairische Regierung wird sich auch der Landtag gegen diese Acnderung sträuben, denn Baiern kommt dabei sehr gut fort. Der Eintritt des Königreiches in die deutsche Branntweinsteuer gemeinschaft wird wahrscheinlich zum 1. April 1888 erfolgen. In Breslau ist ein Schreiben deSKardinal- staatSsecretärs Rampolla angekommen, in welchem die Ernennung des Bischofs vr. Kopp zum Fürst bischof dem Domcapitel amtlich mitgetheilt wird. Die Nachricht, daß demnächst die Kaiserglocke des Kölner Domes geweiht wird, bestätigt sich. Der Weihe-Act wird am 30. d. vom Erzbischof vollzogen werden. Frankfurt a. M., 27. Juni. In der Ver- fammlmig der Vertreter der Berufsgenossenschaftcn behufs Begründung eines Verbandes deutscher Berufsgenossenschaften sprach Staatssekretär von Bötticher die Freude aus, das die Einladung ihm Gelegenheit gebe, den Vertretern deütscher Industrie seinen Dank auszusprechen für die eifrige und verständnißvolle Mitarbeit an den socialpolitischen Maßregeln, welche der Förderung d«S inneren Friedens gewidmet seien. Die ReichSregierung sei Anfangs in Sorge gewesen, ob sie innerhalb der Industrie das erforderliche Entgegenkommen finden werde, jetzt seien seine Zweifel geschwunden, die Regierung gehe zuversichtlich daran, den Berufs genossenschaften weitere Aufgaben zuzuweisen, die durch die Altersgesetzgebung bedingt werden. Dieser Gesetzentwurf werde voraussichtlich früher zum Abschluß kommen, als Anfangs zu hoffen war, dann werde Deutschland auf dem Gebiet der Humanität eine Gesetzgebung besitzen, wie kein anderes Land, die aber hoffentlich auf andere Länder vorbildlich einwirken werde. Präsident Bödicker constatirte, um Mißverständnissen vor zubeugen, daß alle Berufsgenossenschaften das gleiche Maß der Selbstständigkeit genießen, daß das Verhältniß derselben zum Reichsversicherungs amt jeden Zweifel an Harmonie ausschließe. — Das Statut wurde on Kloo angenommen, die Wahl des geschäftsführenden Ausschusses jedoch vertagt. Wien, 27. Juni. Die Kaiserin Elisabeth wird in den nächsten Tagen zu mehrwöchent lichem Aufenthalte nach dem englischen Seebade Cromer abreisen. — Gestern Abend ist im Prater der große Luftballon des Luftschiffers Spelterini vor Beendigung der Füllung in Folge starken Windes nach der Zerreißung des Netzes, an welchem die Gondel befestigt war, davongeflogen; bisher hat man keine Spur, wohin der Ballon geflogen ist; die Gondel ist zurückgeblieben. Es ist kein Mensch beschädigt. Eine neue russische Zollerhöhung kündigen Warschauer Blätter an. Danach soll aus die Einfuhr roher Baumwolle nach Polen binnen Kurzem ein erheblich höherer Zoll gelegt werden. Aus Petersburg läßtsich die „Franks. Ztg." indirect melden: Aus sicherer Quelle erfahre ich, das Katkow infolge der Veröffentlichung der Enthüllungen Tatischtschews und wegen der politischen Richtung der „Mosk. Wjed." nicht allein einen scharfen Verweis erhalten hat, sondern daß ihm auch zum 1. Januar des nächsten Jahres welche er IN Pacht hat, gekündigt worden ist. Der „Nat.-Ztg." wird aus Paris tele- graphirt: Das unzeitgemäße Meeting, welches auch zur Verherrlichung des General Boulanger dienen sollte, hat im Lager der Patriotenliga Zwietracht hervorgerufen. Mehrere „bedeutende" Mitglieder des Comitö protestiren gegen das Vorgehen Döroulvdes und erklären ihren Aus tritt. Das Lyoner Comitü veröffentlicht eine mißbilligende Erklärung. Es werden jedoch noch keine Stimmen laut, welche die Nützlichkeit der Auflösung der Patriotenliga befürworten. - General Jung, der bekannte intime Mitarbeiter des Generals Boulanger, ist zum Gouverneur von Dünnkirchen und zum Obercommandanten der dortigen Festungsgruppe ernannt, also „kalt gestellt" worden. — Die Haltung des Mini steriums in der Kammerdebatte bezüglich der Seminaristen hat zwar die konservative Presse in Harnisch gebracht. Es wird jedoch nicht be fürchtet, daß die Rechte nunmehr sofort ihre dem Cabinet Rovier wohlwollende Haltung auf- giebt. um wieder behufs Sturzes des Mini steriums mit den Radicalen eine Coalition zu schließen. Andererseits wird erwartet, daß ein Theil der radicalen Linken die Gelegenheit be nutzen wird, um in's ministerielle Lager übcrzu gehen. — Der bekannte Vertheidiger des Branntweinmonopols, Professor Alglave, richtet an den „Temps" ein Schreiben, worin er den Alarmruf ausstößt, daß Deutschland infolge der durch das neue Gesetz für die Uebcrgangszcit bis zum 1. October verdreifachten Exportprämie in den nächsten Monaten Frankreich mit Spiritus überfluthen werde, so daß das Monopol die einzige Rettung wäre. London, 25. Juni. Die amtliche „Gazette" veröffentlicht ein Schreiben der Königin an den Staatssecretär des Innern, in welchem die Königin ihren warmen Dqpk ausspricht für den ihr seitens der Bevölkerung auf dem Zuge nach der Westminster - Abtei gewordenen enthusiastischen Empfang, der sie tief gerührt habe. Dieser Empfang habe gezeigt, daß die Arbeit und die Sorgen fünfzig langer Jahre, von welchen zwei undzwanzig voller Kummer und ohne den schützenden Arm des geliebten Gatten ertragen worden, von dem Volke in gerechter Weise gewürdigt würden. Diese« Gefühl werde sie iit ihrer oft schwierigen Arbeit während des Restes ihres Lebens ermuthigen.