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«kannte, diese» 70jährige Jubiläum noch erlebt zu haben. Der Zustand des greisen Monarchen war keineswegs gefährlich, doch mußte der Kaiser in letzter Zeit auf Anrachen der. Leibärzte das Zimmer hüten und durfte sich bei dem vorhandenen Katarrh und Augenreiz nicht auf s Neue der Zugluft auSsetzen. Ueber das Befinden des deutschen Kronprinzen lauten die Nachrichten sehr erfreulich, da der nach Berlin zurückgekehrte Specialarzt Mackenzie eine erfolgreiche Operation vollzog und nun die geplante Neise des Kron prinzen zu den Jubiläumsfeierlichkeiten seiner Schwiegermutter, der Königin Victoria von Eng land, für unbedenklich erklärt. Der deutsche Reichscanzler, dessen Muskelschmerzen nachgelassen haben, verzichtete trotzdem auf seine ursprüngliche Absicht, Mittwoch nach Friedrichsruh abzureisen, da ihm doch viel daran lag, so lange in Berlin zu bleiben, bis sich im deutschen Reichstage das Schicksal der beiden großen Steuervorlagen ent schieden hat, was erst im Laufe dieser Woche der Fall sein kann. Der Reichstag ist zwar am Dienstag wieder zusammengetreten, war aber bisher so mangelhaft besetzt, daß sich die Ver handlungen bei halbleerem Hause ziemlich mühe voll hinschleppten. Bei den Berathungen über die Abänderung einer subventionirten Postdampfer linie erregten am Dienstag die gegen die Leitung des „Nordd. Lloyd" gerichteten Angriffe die Gemüther in ungewöhnlicher Weise. In der Mittwoch-Sitzung nahm der Reichstag die An träge der Arbeiterschutzcommission betreffs der Kinderarbeit einstimmig an, obgleich vorher in der Debatte einzelne Bedenken geltend gemacht wurden und das hartnäckige Schweigen der Ver treter der Reichsregierung Zweifel an dem Er folge dieser Anträge erregen mußte. Sicherer scheint das Schicksal des Branntweinsteuer-Gesetz entwurfes, dessen zweite Lesung am Montag bei gut besetztem Hause vor sich gehen dürste, nach dem die Branntweinsteuer-Commission des deutschen Reichstages am Mittwoch das Gesetz mit allen gegen nur eine Stimme angenommen und die schwierige Frage der Nachsteuer durch Herabsetzung des Satzes aus dreißig Pfennig für den Liter reinen Alkohols zu lösen versuchte. Die Reichs tagscommission zur Vorberathung der Zucker steuer-Vorlage hat Mittwoch Abend bis gegen Mitternacht gesessen, um die erste Lesung des Entwurfs zu beenden. Der Reichstag wird dem nach sicher in der Lage sein, sowohl die Zucker steuer-Vorlage wie den Branntweinsteuer-Gesetz entwurf in nächster Woche im Plenum zu berathen und nach Erledigung dieser beiden wichtigen Steuergesetze die Berathung der übrigen Vorlagen bis zum Herbst zu vertagen und bis dahin die parlamentarische Arbeit einzustellen. — In Mainz sind am 6. d. die dortigen neuen Hafenanlagen in Gegenwart des Großherzogs von Hessen und der ganzen großherzoglichen Familie feierlich ein- geweiht worden. Donnerstag Vormittag wurde in Frankfurt am Main die erste deutsche land- wirthschaftliche Wanderausstellung durch den Präsidenten Fürsten zu Wied eröffnet. Während seit der Auflösung des czechischen Clubs des österreichischen Reichsrathes in Böhmen zwischen den Anhängern des altczechischen Führers Rieger und denen des jungczechischen Führers Gregr eine Bruderfehde tobt, ist in Prag am 6. d. M. ein Parteimann aus dem Leben geschieden, der lange Zeit als unbestrittener Leiter des Czecheuclubs galt, Graf Heinrich Clam- Martinitz. Dieser Vertreter des czechischen feu dalen Adels, der im Reichsrath wiederholt erklärte, daß er sich dort nur als Vertreter des böhmischen Landtages betrachte, läßt in der Partei der Rechten eine fühlbare Lücke zurück und wird sein Hin scheiden sowohl von nationaler wie von clerikaler Seite betrauert. — In Ungarn ist die Wahl agitation im vollsten Gange, da die Wahlen zum ungarischen Reichstage bereits am 17. d. M. mit der zuerst in Budapest stattfindenden Ab geordnetenwahl ihren Anfang nehmen. Die Gegner des Cabinets Tisza benutzen die bei der Ueber- fluthung der Theiß-Niederung an das Tageslicht getretenen bedeutende Mängel der Verwaltung als scharfe Mittel zur Bekämpfung des jetzigen RegierungssystemS in Ungarn. Der angerichtete Schaden ist sehr bedeutend und der Unwille der hart betroffenen Bevölkerung der überschwemmten Gebiete um so gerechter, als mit den ihnen für die Flußregulirungen in den letzten Jahren ab genommenen bedeutenden Beiträgen der versprochene hinreichende Schutz gegen Hochwasser nicht ge schaffen wurde. Anläßlich de» Nationalfestes erließ der König Humbert von Italien am vorletzten Sonntag eine Amnestie und hielt in Rom eine Parade über die dortig« Garnison ab, bei der er die au» Massauah zurückgekehrten wenigen Mannschaften, welche die traurige Catastrophe von Dogali-Saati überlebten, huldvoll auszeichnete. Die neuerdings getroffenen militärischen Maßnahmen lassen keinen Zweifel darüber zu, daß da» Ministerium Depreti»- Crispi fest entschlossen ist, durch ernste Kämpfe gegen die Abessinier ver kriegerischen Ehre Italiens Genugthuung schaffen zu lassen. Eine durch die letzte Allokution des Papstes angeregte Aussöhnung zwischen dem Vatikan und dem Quirinal beschäftigt die öffentliche Meinung in Italien nicht minder. In der italienischen Kammer hat der Deputirte Bowio eine Interpellation, betreffend die Politik der Regierung dem Vatikan gegenüber angemeldet. Ber der ungemeinen Raschheit, mit der sich in Frankreich die Zustände zu verschiebe» Pflegen, kann Niemand wissen, ob der gegenwärtige Erfolg des anscheinend friedfertigen opportunistischen Cabinets Rouvier von Dauer sein wird, ob der selbe den Beginn eines vollständigen Umschwungs oder nur einen jener Uebergänge bezeichnet, an denen die Geschichte der dritten Republik bisher so reich war. Dennoch fehlt es nicht an Opti misten, welche annehmen, daß in der französischen republikanischen Partei nun endlich der Bann des Radikalismus gebrochen sei, dessen Herrschaft wahrscheinlich zum Ruin der Republik geführt hätte. Seit mehrere» Tagen beschäftigt sich die französische Deputirtenkammer mit der Berathung des Militärgesetzes, welches noch die deutlichen Spuren des Boulanger'schen Systems trägt, dessen Fortsetzung durch den jetzigen Kriegsminister, General Ferron, gesichert zu sein scheint. Die Behauptung, der französische Kriegsminister Ferron habe sofort nach Antritt seines Amtes Befehl gegeben, mit der Anfertigung der neuen Waffen Halt zu machen, ist vollständig grundlos; im Gegentheil wurde Befehl gegeben die Anfer tigung der Repetirgewehre möglichst zu beschleu nigen. Ebenso wenig bestätigte sich die Nachricht, daß Ferron den Plan einer versuchsweisen Mobilisirung eines Armeecorps fallen lassen wolle. Wie officiös mitgetheilt wird, will der Kriegs minister vielmehr, sobald ein neuer Vorsitzender der Budgetcommission ernannt worden ist, sich mit diesem wegen der Höhe des erforderlichen Credits ins Einvernehmen fetzen. Während so bei dem Kriegsbudget kaum wesentliche Abstriche zu erwarten sind, hofft der französische Minister des Auswärtigen, Flourens, durch seinen Plan einer „indo-chinesischen Union" bedeutende Er sparnisse für die ostasiatischen Schntzländer zu ermöglichen. Sollte sich aber die Behauptung Rocheforts bestätigen, daß die französische Re gierung seit einigen Tagen mehrere schlimme Hiobsposten ans Tonkin empfangen und diese nur der Ocffentlichkeit vorenthalten ^hat, dann dürfte es auch mit diesen Ersparnissen nicht weit her sein. Das englische Unterhaus hat nach dem Ablauf der Pfingstfcrien die Berathung der irischen Strafrechtsbill wieder ausgenommen und der bisherige Gang der Parlamcntsverhandluugen läßt nicht daran zweifeln, daß das Cabinet Salisbury unter energischer Handhabung der Geschäftsordnung die Annahme der Bill in kürzester Frist erzwingen wird. Das Verhalten Gladstonc's, der vor der Wiedereröffnung des Parlaments Wales bereiste und dort versprach, für diese Provinz ebenso wie für das der offenen Empörung zutreibende Irland eine selbstständige Verwaltung durchzusetzen, ist von vielen englischen Blättern in schärfster Weise verurtheilt und als unglücklicher Gegensatz zu den Jubiläums-Vor bereitungen characterisirt worden, welche Feier hauptsächlich den Zweck hat, die Einheit von Großbritannien der ganzen Welt deutlich zu ver anschaulichen. Dem Kaiser von Rußland soll dieindiskrete Veröffentlichung geheimer diplomotischer Akten stücke in Katkow's „MoskauerZeitung" so miß fallen haben, daß er Katkow eine in Gatschina nachgesuchte Audienz abschlug und den an jenen Enthüllungen betheiligten Staatsbeamten Saburow und Tatitschew seine Unzufriedenheit bekunden ließ. Die letzte französische Ministerkrisis dürfte überhaupt für die jetzige russische Politik von großer Bedeutung gewesen sein. In Petersburg behauptet man, daß die bereits angeordnete Ver abschiedung von Saburow und Tatitschew nur auf dringende Vorstellungen von einflußreicher Seite dahin abgeändert worden ist, daß den Betreffenden das kaiserliche Mißfallen ausgesprochen wurde. Infolge der starken Vermehrung der chinesischen Armee an der Grenze der Amurprovinz und der Ansammlung englischer Kriegsschiffe in den chinesischen Gewässern sah sich die russische Regierung veranlaßt, starke Befestigungen in der Amurgegend anruordnen. Wenn auch die türkische Regierung zunächst an der mit England durch Sir Drummond Wolff abgeschlossenen Convention über Egypten festhält, ist doch nur geringe Aussicht vorhanden,, dadurch zu «iiftr endgiltigen Regelung det Dinge im Nillande zu gelangen. Nach den Aeußerungen von russischer und französischer Seite ist an die Zustimmung sämmtlicherMächte, die zur Schaffung eines Definitivums unumgänglich nöthig ist, gar nicht zu denken. Der Vortyeil, den England aus der Convention zu ziehen gedenkt, liegt also lediglich in der Regelung seines Verhältnisses zur Türkei und des von derselben ausdrücklich gemachten Zugeständnisses, daß es, falls eine Annahme von Seiten sämmtlicher Großmächte nicht zu erlangen ist, in Egypten bei dem gegen wärtigen vorläufigen Zustand verbleiben soll. Ueber das Befinden des Kaisers wird gemeldet, daß eine entschiedene Besserung ein getreten ist. Der Kaiser hat eine ziemlich ruhige Nacht gehabt und recht gut geschlafen. Die krampfartigen Beschwerden im Unterleib treten nur noch in großen Intervallen ruckweise auf und sind bei Weitem nicht mehr so heftig, wie in den Tagen zuvor. Auch die katarrhalische Affection der Augen scheint nachzulassen. Auf den Rath seiner Leibärzte verließ der Kaiser gegen zehn Uhr das Bett und empfing bald darauf seine treue Pflegerin, die Großherzogin von Baden. Dieselbe begab sich um 10^ Uhr zum Gottesdienst und kehrte nach einer Stunde zum Kaiser zurück. Um 12^ Uhr traf die Erbprin- zessin von Meiningen im kaiserlichen Palais ein und weilte über eine Stunde mit der Großher zogin beim Kaiser. Die Leibärzte lösen sich, wie üblich, in der Ueberwachung des hohen Patienten ab. Das „B. T." schreibt: Mr. Mackenzie erklärt sich vollständig beruhigt über den Zustand des Kronprinzen. Nachstehende Worte sind aus Prof. Virchows Bericht: Das zuletzt extrahirte Stück enthält bedeutend großen krankhaften Theil patho logischer Struktur der Anschwellung, während der zuerst extrahirte Theil blos entzündete Producte zu Tage gefördert hat. Die erste Probeentnahme zeigte nur negative Resultate, während die zweite positive und daher höchst befriedigende Resultate ergab. Man kann daher mit Sicherheit sachgemäß erklären, daß vollständige Heilung mit größter Bestimmtheit erwartet werden kann, falls nicht gänzliche Aenderung in der Struktur der An schwellung eintritt, was jedoch höchst unwahr scheinlich ist und in der Praxis bisher ungemein selten vorkam. Es ist wahrscheinlich und in solchen Fällen gewöhnlich, daß wiederholte Ope rationen bis zur vollständigen Heilung nothwendig sind; allein dieselben sind unbedeutend und ganz gefahrlos. Nur durch allzuhäufige Operationen innerhalb zu kurzer Zeitfristen könnte eine Ent zündung entstehen, welche vielleicht ernstere Folgen nach sich ziehen dürfte. Virchows Bericht füllt vier Fvliosciten. Der Kronprinz wird in Norood bis Anfang Juli und dann einen Monat in Norris Castle unter Behandlung des Doctors Morell Mackenzie bleiben. Der medicinische Ausdruck für daS Leiden des Kronprinzen ist „paaliiäeimia vsrioosa". Der zuerst ausgeschnittene Theil hatte die Größe eines Stecknadelkopfes, der zweite die einer kleinen Erbse; im Ganzen ist bisher un gefähr die Hälfte der ganzen Anschwellung aus geschnitten worden. Berlin, 13. Juni. Der Reichstag erledigte heute die erste Lesung des Gesetzentwurfs, betr.. die Anwendung abgeänderter Reichsgesetze auf landesgesetzliche Angelegenheiten Elsaß-Lvthringens und lehnte die Commissionsberathung ab; die 2. Lesung findet daher im Plenum statt. Bei der hierauf folgenden 2. Berathung der Branntwein steuervorlage spricht Abg. Rickert gegen das Gesetz, als nur im Interesse der Agrarier und verlangt, der Steuerertrag, der viel größer sei, als ange nommen werde, solle nach einem klaren Plane zur Entlastung der Gemeinden verwandt werden. Redner befürwortet noch die Aufhebung des Kaffeezolles. Abg. Mirbach tritt den Ausführungen des Abg. Rickert entgegen und bekämpft die Auf hebung des Kaffeezolles. Redner hält die Be lastung der Consumenten durch die Branntwein steuer für gering, auch schade eine Einschränkung des Branntweinconsums nicht. Abg. Miquel er klärt, seine Partei lege Gewicht darauf, daß neben der Branntweinsteuervorlage auch noch die Zucker- stcuervorlage in dieser Session abgeschlossen werde. Finanzminister Scholz rechnet bestimmt darauf, daß bei Annahme des Gesetzes das Deficit auS dem preußischen Etat verschwinde. Hierauf wurde die Berathung geschlossen. 8 1 wird nach der Commissionsfassung angenommen. Dem deutschen Geschwader an den afrika nischen Küsten widmet der „Cape Argus" , da» namhafteste englische Blatt in Südafrika , dm nachstehenden, in einem sonst nicht gerade