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Politische Wrltschw. Die letzte Zeit vor einer ernsten Entscheidung Hat immer etwa» tief Erregende». Die allgemein verbreitete Ueberzeugung, daß e» sich bei der am 21. d. M. bevorstehenden Wahl -um deutschen Reichstage um eine entscheidende Wendung in der Geschichte des neuen deutschen Kaiserreichs handelt, ist wohl geeignet, jeden Vaterlandsfreund die Wichtigkeit des Augenblicke» tief empfinden zu lassen. Im ganzen Reiche gingen denn auch in letzter Zeit die Wogen der Wahlbewegung ungewöhnlich hoch und eS wird auch nach der Wahl noch Zeit währen, bis die Fluthen des politischen Lebens sich wieder glätten. Der Ge danke, daß die Mehrheit des letzten Reichstages dem Plane einer durch die Verhältnisse nur zu gerechtfertigten Vermehrung der Wehrkraft des Reiches Hindernisse bereitete, trotz der ernstesten Warnungen vor äußeren Gefahren, mußte zahl reiche Gemüther ungewöhnlich erregen. Diese Gemüthcr wurden dadurch nicht ruhiger gestimmt, daß die Septennats-Gegner die Gefahren von außen höhnisch ableugneten, dafür aber die Wähler massen mit der angeblichen Bedrohung des all gemeinen Wahlrechtes und dem Hinweis auf neue Monopol-Projecte durch innere Gefahren lügnerisch zu schrecken und für ihre Zwecke empfänglich zu machen versuchten. Mit besonderer Spannung sah man in dem Centrum, der stärksten oppo sitionellen Partei im letzten Reichstage, eine tiefe Gährung dadurch entstehen, daß der besonders von Windthorst beeinflußte Theil dieser Fractivn trotz der schärfsten Abmahnungen des Papstes, an dem Bündniß mit den Demokraten festhielt, während ein anderer meist der hohen Geistlichkeit und dem staatstreuen Adel angehöriger Theil dieser Fraction sich rückhaltlos für das von dem Vatikan aus im Interesse des Weltfriedens warm empfohlene Septennat auszusprechen begann. Die Aufforderung zahlreicher Mitglieder des katho lischen Adels der Rheinprovinz an ihre Glaubens genossen zur Lossagung vom Centrum und Bildung einer „katholischen conservativen Partei" machte einen tiefen Eindruck. Man braucht daraus noch nicht auf den nahen Untergang des Centcums zu schließen, wird aber kaum fehl gehen, wenn man darin eines von mancherlei Anzeichen sieht, welche auf eine tiefgehende Erschütterung der Autorität der Centrumsführer in der katholischen Bevölkerung hindeuten. Die Letztere sieht durch das Entgegenkommen der preußischen Regierung auf kirchenpolitischem Gebiete ibre hochgespannten Erwartungen in freundlichster Weise erfüllt. Die dem preußischen Herrenhause zugedachte neue kirchenpolltifche Vorlage, zu deren Borberathung diese Körperschaft bereits einen Ausschuß von 20 Mitgliedern wählte, soll auch dem Wunsch »ach Wiederzulassung der Mönchsbruderschaften Rech nung tragen. In Bezug auf die Jesuiten freilich, welche durch Reichsgesetz verbannt sind, war ein ähnliches Zugeständniß schon aus Competenz- gründen unmöglich. Es wird sich am 21. d. gezeigt haben, ob diese Concession auf kirchenpolitischem Gebiete und die an der Westgrcnze Deutschlands drohenden Gefahren viele Wähler veranlaßten, sich von denjenigen Volksvertretern loszusagen, welche der deutschen Reichsregierung bisher so beharrlich Widerstand leisteten. Die Mitglieder der Opposition leugnen noch jetzt jede Gefahr, trotzdem die Errichtung von Baracken, welche für 100,000 Mann Truppen Raum bieten in den Ostprovinzen Frankreichs, der massenhafte Ankauf von spanischen Maulthieren und Pferden für französische Rechnung, die riesigen Käufe, welche neuerdings pfälsische und reichsländische Schaf händler, die nach Frankreich handeln, besonders in Baiern bewerkstelligten ganz unverkennbar da rauf hindeuten, daß General Boulanger eine Verstärkung der französischen Concentrationslinie zu dem Endzwecke angeordnet hat, um bei Beginn der Action große Truppcnmassen sofort über die deutsche Grenze zu werfen. Zahlreiche Haus suchungen und Verhaftungen, welche in den Reichslanden stattfanden, lieferten den Beweis, daß die französische Patriotenliga Verbindungen mit einzelnen Elsässern und Lothringern anzu knüpfen versuchte, die sich mit per neuen ^Ordnung noch nicht befreunden konnten. Die Verhängung des Keinen Belagerungszustandes über die Städte Stettin, Grabow, Altdamm, die Amtsbezirke Bredow, Wirsow, Scheune und Finkenwalde zeigte, daß die Reichsregierung fest entschlossen ist, im Augenblick der Gefahr von außen keine Ruhestörung im Innern zu dulden. Dieselbe tritt ebenso entschieden der bedenklichen Friedens heuchelei der Opposition entgegen; so bestritt der Minister der öffentlichen Arbeiten Maybach im preußischen Abgeordnetenhaus energisch, daß man an der Secundärbahn-Borlage eine unbedingte Bürgschaft für die Erhaltung de» Frieden» er blicken dürfe. Der deutsche Reichskanzler selbst sieht unverkennbar die Situation als eine sehr ernste an und hält das Zustandekommen einer regierungsfreundlichen Reichstagsmehrheit unter den jetzigen Verhältnissen für unerläßlich. Seine Aeußerung, daß eine kaiserliche Botschaft in Frage kommen werde, wenn die etwa ungünstig aus fallenden Reichstagswahlen eine abermalige Auf lösung des Reichstages nothwendig erscheinen lassen sollten, ist wohl geeignet gewesen, alle Wähler auf die ernste Wichtigkeit der am 21. d. stattgefundenen Wahl aufmerksam zu machen. Von den Parlamenten Oesterreichs und Ungarns sind die Creditforderungen, welche sich als eine natürliche Folge des neuen Landsturm gesetzes darstellten, mit patriotischer Bereitwilligkeit behandelt worden. In den Ausschüssen, welche .die Vorlage zu berathen hatten, verschloß man sich der Ueberzeugung nicht, daß für die Ver- theidigung der Monarchie Opfer gebracht werden müßten, um sich nicht von den Ereignissen über raschen zu lassen. Das gleiche Entgegenkommen hofft man von den am 1. März zusammentretenden Delegationen, von welchen ein Credit von 50 Millionen Gulden verlangt werden soll. Für die Finanzen Ungarns werden die abermals zu briiigenden großen Opfer besonders empfindlich sein und hängt dies vielleicht auch damit zu sammen, daß das durch den Grafen Szapary erledigte Portefeuille der Finanzen vorläufig von dem ungarischen Ministerpräsidenten Tisza selbst übernommen werden mußte. Die Spaltung im deutschen Club des österreichischen Abgeordneten hauses wird als eine neue Zerbröckelung ver deutschen Opposition besonders deshalb beklagt, weil die von den verschiedenartigsten Interessen getriebene Majorität des österreichischen Reichs raths sofort zu einem geschlossenen Ganzen wird, so bald es gilt, gegen die Deutschen Front zu machen. Ueber diese Spaltung sagt die „Nordd. Allg. Ztg." sehr treffend: „Während alle Welt, mit Bangen den umdüsterten politischen Horizont betrachtend, sich die Frage stellt, ob das Gewölk sich noch einmal zertheilen oder zum Kriegswetter verdichten werde, haben die Genossen der schärferen Tonart nichts Wichtigeres zu thun, als ihre Fractions-Tüfteleien auf die Spitze des Conflicts zu treiben. Es ist nicht abzusehen, wo dieselben mit dem Abstreifen des letzten Restes von österreichischem Liberalismus hinaus wollen, nachdem sie sich von der Grundlage losgesagt haben, worauf die Existens einer österreichischen Partei denkbar ist." Die italienischen Blätter veröffentlichen sehr ehrenhafte Einzelheiten über die Haltung der italienischen Truppen in den Gefechten gegen die Abessinier, besonders in dem unglücklichen Treffen bei Saati. Oberstlieutenant de Cristo- fvris, welcher, bereits verwundet, mit noch 12 Mann übrig geblieben war, sagte denselben, daß sie, den Namen des Vaterlandes auf den Lippen, sterben müßten. „Ehre den Tödten," rief er, „begleiten wir die Gefallenen, präsentirt die Waffen." Die Soldaten stellten nun das Feuer ein, präsentirten das Gewehr und fanden mit ihrem Führer den Tod. König Humbert erließ an die in Afrika stehenden Truppen einen über aus lobenden Tagesbefehl und bestimmte die Summe von 120,000 Franks zur Gründung eines Fonds zur Unterstützung armer Familien von gefallenen und dienstuntauglich gewordenen Soldaten. Der Gemeinderath Roms beschloß, einen kürzlich dort ausgcgrabenen egyptischen Obelisken als Monument für die bei Saati ge fallenen Italiener auf dem Capitol aufstellen und die Namen der Opfer an demselben anbringen, zu lassen. Der belgischen Kammer ließ König LeopoldII. eine Creditvorlage unterbreiten, nach welcher 24 Millionen Franks für die Maasbefestigung und 15 Millionen für die Bewaffnung des belgischen Heeres mit Repetirgewehren be stimmt sind. Die Vorlage wird schon des halb schleunige Annahme finden, weil der belgische Gesandte in London, Baron Solvyns, nach Brüssel meldete, im Kriegsfälle zwischen Frankreich und Deutschland könne Belgien nur auf seine eigenen Kräfte zählen, um die Unverletz lichkeit seines neutralen Gebietes zu vertheidigen. Von denselben französischen Blättern, welche noch vor Kurzem kriegerische Artikel brachten und fortwährend den Krieasminister Boulanger als den Mann priesen, der Frankreich zum Siege führen werde, wird jetzt j^e «Lfichl Deutschland anzugreifen, entschieden m Adnde gestellt. Die meisten Pariser Journale übertreibe» die von der deutschen Heeresleitung an der- Grenze getroffenen Vorsichtsmaßregeln und meinen^ man solle Europa »um Zeugen nekMen von Frankreich« Ruhe unv Mäßigung. Nach einer Mittheiluna des „Journal des DSbatS" befahl die französische Regierung, fall» eine deutsche Patrouille irrthümlich französischen Blchen be treten sollte, einfach Act von dieser Verletzung zn nehmen und darüber nach Pari» zu berichten, damit jeder Fall Gegenstand diplomatischer Reklamationen bilden könne. Der Führer der Mehrheit der französischen Deputirtenkammer äußerte sich zu dem (Korrespondenten eine» Wiener Blattes dahin, es werde Deutschland nicht ge lingen, die Geduld der zum Abwarten entschlossene» Franzosen zu brechen. Das englische Unterhaus hat nach langen ermüdeten Verhandlungen, in deren Verlauf zahl reiche Amendements der irischen Parlaments mitglieder beseitigt werden mußten, die Adresse an die Königin mit 283 gegen 70 Stimmen an genommen. Die Regierung wird nun sofort mit der „Cloture-Bill" vorgehen, welche es durchs eine Abänderung der Geschäftsordnung der Minder heit unmöglich macht, die Verhandlungen in un gebührlicher Weise derartig in die Länge zu ziehen. Gladstone kehrt nach London zurück, um an der Debatte über diese wichtige neue Vorlage theilzunehmen. Durch die Wachsamkeit der russischen- Polizeibehörden ist eine republikanische Ver schwörung der Petersburger Marineschüler recht zeitig entdeckt und im Keime erstickt worden.. Auf die Spur der Verschwörung leiteten auf gefangene Briefe, welche einzelne Marineschüler an ihre Freunde in der Provinz gerichtet hatten.. In Serbien fand ein theilweiser Minister wechsel statt, zu welchem das von dem bisherigen Kriegsminister General Horwatovisch cingereichte Entlassungsgesuch Veranlassung gab. Nach einem langen Cabinetsrath unter Vorsitz des Königs Milan wurde der bisherige Bautenministeir Topalovitsch zum Kriegsminister und der Ober bürgermeister von Belgrad, Michael Bogicsevitsch,. zum Bautenminister ernannt. Die Feststellung des Termins für die Ein berufung des Reichstages hängt gutem Vernehmen nach von dem Wahlergebniß ab, sind der Stich wahlen nicht zu viele, so ist die Einberufung, zum 1. oder 2. März keinesfalls als ausgeschlossen anzuschen. Der 8. März ist, da die Stichwahlen möglichst am fünften Tage nach Verkündigung des ersten Wahlergebnisses erfolgen sollen, der späteste in Aussicht genommene Einberufungs termin. — Das Befinden des Kaisers hat sich sehr gebessert. Gestern ist derselbe nach einer vom Husten kaum gestörten Nacht von früh an, wie in gesunden Tagen, thätig gewesen, hat zahlreiche militärische Meldungen empfangen, Audienzen ertheilt und Nachmittags noch eine volle Stunde den Vortrag des Grafen Herbert Bismarck ent gegengenommen. Der bevorstehende Geburtstag Sr. Majestät des Kaisers wird in ganz besonderer, erweiterter Weise innerhalb der kaiserlichen Familie gefeiert werden. Die Taufe des jüngsten Urenkels Sr.. Majestät wird dazu beitragen, diesen Tag noch besonders hcrvorzuheben. Ferner wird nach einer Mittheilung des „Deutschen Tagebl." die okficielle Proclamirung der Verlobung des Prinzen Heinrich mit der Prinzessin Irene von Hessen an diesem Tage stattfinden. Der Kaiser hat den Ausschuß der Studenten schaft wissen lassen, daß er' von der geplanten Festlichkeit eines studentischen FackelzugeS mit Freude Kenntniß genommen habe und diese Ovation gern genehmige. Der Fackelzug wird nun am 21. März, dem Vorabend des Geburts tages, in überaus glänzender Weise stattfinden» und ein großer allgemeiner Kaisercommrrs soll unmittelbar sich anschließen. Am Geburtstage selbst wird ein „musikalischer Frühschoppen" die Studentenschaft im großen Saale der Philharmonie vereinigen. Auf eine Anfrage, ob die Besitzer des Eisernen Kreuzes als „Inhaber" oder als „Ritter" zn bezeichnen seien, hatdie General-Ordens-Commission, in Berlin erwidert: „Ew. Wohlgeboren erwidern wir auf die Anfrage vom 9. d. M. ergebens^ dast bezüglich der Frage, inwieweit den Besitzern de» Eisernen Kreuzes das Prädicat „Ritter" gebührt» eine Allerhöchste Entscheidung nicht ergangen ist. Es steht hiernach in dem Belieben der brtheiligten