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Die außerordentliche Zession de- engk^rti Parlaments wurde mit folgender Thronrede eröffnet : Meine Lord« und meine Herren! Ich bedauere, daß ich genölhigt worden bin. Sie zu einer ungewöhnlichen und der Mehrzahl von Ihnen vermuthlich ungelegenen Zeit einzuberufen. Die Feindseligkeit, welche der Emir von Afghanistan gegen meine indische Regierung kundgegeben, und die Art und Weise, wie er meine freundschaftliche Gesandtschaft zurückgewicsen hat, haben mir keine andere Wahl gelassen, al« eine entschiedene Forderung auf Genugthuung zu stellen. Da diese Forderung mißachtet worden, so habe ich eine Expedition in sein Gebiet entsenden lassen und die erste Gelegenheit ergriffen, Sie zusammenzurufen und Ihnen die durch das Gesetz erforderte Mittheilung zu machen. Ich habe Weisung gegeben, daß Ihnen Schriftstücke über diesen Gegenstand vorgelegt werden. E- nun freilich voräuSzusehen, daß die Pforte A ihren Verpflichtungen im nächsten Frühjahr ebenso . wenig nachgekommen sein wird, wie heute. Der I Abtretung der Montenegro zugesprochenen Districte L setzen die in Aufstand begriffenen Albanesen den ^hartnäckigsten Widerstand entgegen. Griechenland ' wird sich mit der kleinen Grenzberichtigung, welche ! die Pforte ihm anbietet, nicht zufrieden geben, viel mehr auf seinem „Scheine" bestehen. An die Ein führung wirklicher Reformen in den nominell unter türkischer Herrschaft noch verbliebenen Provinzen ist nicht zu denken, selbst auf die Herstellung geordneter Verhältnisse in denselben ist kaum mehr zu hoffen. Und ein günstiger Abschluß der Separatverhandlungen zwischen Rußland und der Türkei steht wohl am weitesten im Felde. Die beiden Kaisermächte, welche das osmanische Reich in Europa auf der Landseite mit eisernen Armen umklammert halten, werden also nach Verlauf der im Berliner Frieden festgesetzten Fristen Grund genug haben, die Räumung des tür kischen Gebietes hinauszuschieben und der Pforte- mit neuen Drohungen und Angriffen gegenüberzutrcten. Trotzdem macht sich immer allgemeiner die Ueber- zeugung gellend, daß die weitere Entwickelung der Dinge ohne Störung des Weltfriedens vor sich gehen werde. Die Bcsorgniß, als ob die beiden Mächte, in deren Händen das Schicksal der Türkei liegt, über die Theilung der Beute in Streit gerathen könnten, ist geschwunden, seitdem Oesterreich durch die Er klärungen des Grafen Andrassy mit seinen Annexions plänen offen hervorgetreten ist, also keinen Zweifel darüber läßt, daß es eine gebundene Marschroute verfolgt, die eS gebieterisch auf eine freundschaftliche Vereinbarung mit Rußland hinweist. England aber, das durch den afghanischen Krieg hinreichend in Anspruch genommen ist, wird den russischen Aus gleichsanerbietungen ein um so geneigteres Ohr leihen, da es einzusehen beginnt, daß die Hoffnung auf eine Stärkung der Türkei auf dem Wege der Reformen eitel ist. Die bevorstehende Rückkehr der Herzogin von Edinburg, Tochter des Kaisers Alexander, welche bekanntlich seitdem Ausbruch des orientalischen Krieges im Auslande weilte, nach England ist ein bedeutsames Symptom für den Umschwung, der sich in den Be ziehungen beider Mächte zu einander neuerdings an gebahnt hat. Fürst Bismarck, dem man das Haupt verdienst um die neueste Annäherung beider Gegner zuschreibt, wird gewiß auch fernerhin das L-einige thun, um Oel auf die erregten Wogen zu gießen. Und wenn eS wahr sein sollte, daß die aus Anlaß des Attentats auf König Humbert vorgenommenen Untersuchungen die Existenz eines internationalen Complots herausgestellt haben, welches sich gegen das Leben aller Monarchen richtet, so wird er für- feine VermittlungSthätigkeit den Boden trefflich geebnet finden. So dürfen wir denn Wohl zuversichtlich hoffen, daß unser Kaiser, der die Zügel der Regierung jetzt wieder in seine Hand geommen, die Freude haben wird, seine, wie kürzlich er selbst in seiner Antwort auf die Glückwunschadreffe des Abgeordnetenhauses versichert, „der ruhigen Entwickelung des Vaterlandes gewidmeten Bestrebungen" auch auf dem Gebiet der auswärtigen Angelegenheiten mit Erfolg gekrönt zu sehen! Von allen fremden Mächten empfange ich Versicherungen ihrer freundschaftlichen Gefühle, und ich habe allen Grund, zu glauben, daß die durch den Vertrag von Berlin erwirkte Vereinbarung zur Herstellung des europäischen Friedens erfolgreich zur Ausführung gebracht werden wird. Meine Herren vom Hause der Gemeinen! Die Voranschläge für das kommende Jahr sind in Vorbereitung und werden Ihnen zur richtigen Zeit unterbreitet werden. Meine LordS und meine Herren! Ich schlage vor, daß Sie nach reiflicher Ueberlegung der Angelegenheiten, welche mich bewogen haben, Sie vor der gewöhnlichen Zeit zusammenzuberufen, und nach einer angemessenen Pause die verschiedenen Maßregeln für das öffentliche Wohl, welche Ihnen alsdann vorgelegt werden sollen, in Betracht ziehen. Sch stelle Ihrer Weisheit ver trauensvoll die großen Interessen meine« Reiches anheim und flehe zu dem allmächtigen Gott, daß sein Segen auf Ihren Rathschlägen ruhen möge. — Das Unterhaus hat den Adreßentwurf, d. h. also die Antwort auf diese Thronrede, ohne Ab stimmung angenommen. — Im Oberhause geschah dasselbe. Berlin, 8. December. Anläßlich des heutigen Dankgottesdienstes in den Kirche« der Hauptstadt waren dieselben von Andächtigen überfüllt; in der katholischen Hedwigskirchc fand ein Tedeum statt. Im Dome wohnten die Majestäten und alle Mit glieder der Königsfamilie, in der Nicolaikirche der gesammte Magistrat und die Stadtverordneten dem Gottesdienste bei. Bei der Rückkehr des Kaiser« vom Dome bildete ein nach vielen Tausenden zählendes Publikum sofort Spalier und begleitete den Kaiser auf dem ganzen Wege mit stürmischen Hurrahrufen. Um 1 Uhr empfing beide Majestäten das diplomatische Corps, um 2 Uhr empfing der Kaiser die Mitglieder de» BundeSrathS, um 5 Uhr fand Familientafel bei Ihren Majestäten statt. Wie wir aus Rom unterm 8. Dec. hören , hat Papst Leo XIII. durch Vermittelung der Nuntiatur in München ein Handschreiben an Kaiser Wilhelm gelangen lassen, in welchem der deutsche Kaiser zur Wiederaufnahme der Geschäfte beglückwünscht wird. Der Papst fügt hinzu, er hoffe, daß die Versöhnungs verhandlungen zwischen dem Vatikan und Berlin zu gutem Lud« geführt werden mögen.