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Kr ^ret Kaiserreiche öhwaltet, deren kraftvolles Zu sammenhalten im vergangenen Frühjahr den Ausbruch eines allgemeinen europäischen Krieges verhindert hat. Sollte sich gar das Gerücht bestätigen, welches von einer bevorstehenden Verlobung des österreichischen Kronprinzen Rudolf mit einer Enkelin des deutschen Kaiser« spricht, so würde die Sache des Friedens eine neue Befestigung erhalten, denn dadurch würde allen Jntriguen, welche auf Herüberziehung Oester reichs zu England und Frankreich gegen Deutschland und Rußland ausgehen, der Boden entzogen. Dem sei indeß, wie ihm wolle, sicher ist, daß gegenwärtig von Gastein aus, wo Fürst Bismarck mit dem Kaiser Wilhelm zusammen weilt, mit gewohnter Klugheit und Energie die nöthigen Schritte gethan werden, um die Pforte zur Raison zu bringen, eventuell den Weltfrieden selbst für den Fall, daß eine zweite Theilung der Türkei nothwendig werden sollte, zu sichern. Was die inneren Verhältnisse Deutschlands anlangt, so ist zu constatircn, daß da« Schwerge wicht der Entscheidung auch im neuen Reichs tage bei der nationalliberalen Fraktion und innerhalb derselben bei derjenigen Gruppe von Abgeordneten ist, die in den allermeisten Fragen mit dem Abge ordneten LaSker übereinstimmen. Die absolute Majorität in einem vollbesetzten Hause beträgt 199 Stimmen und es schließt das Haus von rechts her aufgerechnet, die national-liberale Fraktion eine kon servativ-liberale Mehrheit von 208 Stimmen ab; jenseits derselben stehen dann zunächst die 10 bis 12 liberalen Abgeordneten, welche einerseits die „Gruppe Löwe" bilden, anderseits als „elsässische Autonomisten" bezeichnet werden. Namentlich darf für die vermuthlich einzige Vorlage der ersten Session des neugewählten Reichstags, das Socialistengesetz, diese Berechnung als zutreffend gelten. Nicht minder aber stimmt sie in Bezug auf das Militärgesetz, welches dem gegenwärtigen Reichstag, falls nicht auch er vor Ablauf seiner verfassungsmäßigen Mandats dauer aufgelöst wird, im Jahre 1880, spätestens 1881 vorgelegt werden muß, da das zur Zeit in Kraft befindliche Gesetz mit dem letztgenannten Jahr abläust. Die parlamentarische Lage ist mithin durch die Auflösung des Reichstags und durch die Neuwahlen zwar zu Ungunsten der liberalen Parteien verändert worden, die zusammen über 40 Sitze ein gebüßt haben; nicht die Regierung aber ist es, welche gewonnen hat, sondern die konservativen Parteien, namentlich die äußerste Rechte einerseits und das Centrum andererseits. Im Uebrigen ist eine geborene Regierungsmajorität so wenig wie in den früheren Reichstagen vorhanden, selbst wenn die „Gruppe Treitschke" aus der nationalliberalen Fraktion auS- scheidet und sich zu einer besonderen Fraktion mit dem ausgesprochenen Programm, die Regierung zu unterstützen, constituirt. Mit 150, ja mit 160 Stim men hat die Regierung aber noch nicht die Mehr heit im Reichstage. In dieser Lage ist eS begreiflich, daß die öffiziöse Presse Weisung erhalten hat, die während der Wahlen gegen die liberalen Parteien geschleuderten Angriffe und Verdächtigungen einzu stellen und statt deffen wieder an die Einsicht und Vaterlandsliebe derselßkvzu appellirtn. In Italien nehmen die ArbeltSein^te^üNgen größeren Umfang an. In Mailand ist wegen allzu geringen Lohnes ein partieller Streik der Posamentier arbeiter ausgebrochen. Verschiedene Fabriken haben bis auf Weiteres zu arbeiten aufgehört, doch hofft man auf eine baldige Beilegung der Schwierigkeiten, wie sich denn auch die Arbeiter einer tadellosen Haltung beflissen und den streng legalen Weg nicht verlassen haben. Eine zweite Arbeitseinstellung, und zwar seitens der Maurer, wird aus Piacenza gemeldet. Die Streikenden haben eine Deputation mit der Bitte an den Präfekten gesandt, derselbe möge bei . den Maurermeistern vermitteln, daß ihnen eine Lohnerhöhung zugestanden werde. — Ein eigenthüm- liches Ereigniß hat sich im südlichen Toscana, bei Ärcidosso, zugetragen. Dort lebte seit einigen Jahren ein religiöser Schwärmer, welcher neben einem sonst ziemlich korrekt kirchlichen Programm die Behauptung aufstellte, der.-wiekererschienene Christus zu sein und sich hierfür einige hundert Anhänger, manche Nach richten sprechen von 2000, gesammelt hatte, welche, wie eS scheint, eine gewisse altchristlich-republikanische Organisation besaßen. Dieser Mann — sein Name ist Lazzarotti — ist dieser Tage anläßlich eines Tumultes inmitten seiner Anhänger von der könig lichen Gendarmerie erschossen worden. Der Vor fall macht ein peinliches Aussehen. Der „Reichsanzeigcr" vom 2. September enthält eine von Graf Stolberg als Stellvertreter des Reichskanzlers erlassene Bekanntmachung, wonach die Eröffnung des Reichstages am Montag Nachmittag 2 Uhr im weißen Saale in Berlin stattfindet. Soweit sich die zum Nationalfest, am 2. Sept., getroffenen Veranstaltungen überschauen lassen, sind dieselben in allen Gauen des Vaterlands, namentlich aber auch in Sachsen, der Bedeutung des Tages entsprechend würdig-ernste. Erfreulich ist es, daß gerade in diesen Tagen unserer großen Erinnerungen die Version mit einiger Bestimmtheit auftritt, daß Kaiser Wilhelm mit seinem Wiedereintreffen in Berlin im Monat Oktober die Regentschaft wieder im ganzen Umfange übernehmen werde. Die Erfüllung dieses Wunsches hängt selbstverständlich noch von dem Gutachten der Aerzte ab, doch glaubt man, daß dasselbe im obigen Sinne ausfallen werde. Die Gebrauchsfähigkeit der Hände Sr. Majestät des Kaisers zeigt, nach den neuesten Gasteiner Nachrichten, einen erfreulichen Fortschritt, auch im Uebrigen fühlt sich Allerhöchstderselbe so frisch und wohl, daß er täglich einen längeren Spaziergang auf der Kaiser promenade unternimmt und Nachmittags eine Aus fahrt macht. Fast täglich werden distinguirte Per sonen aus der Zahl der Curgäste zur Tafel gezogen, mit denen Se. Majestät sich aüf das Lebhafteste zu unterhalten pflegt. — Am 1. Sept, begab sich Se. Majestät in Begleitung-, des Generaladjutanten Grafen v. d. Goltz zu Wagen zur Kirche imd wohnte in dem mir Andächtigen überfüllten Gotteshause dem Gottesdienste bi- zum Schluffe bei. — Da- Wetter in Gastein ist bis jetzt prachtvoll.