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Bischofswerda, deu 14. Februar 1874. Wiener Vrietr. Bei meiner letzten Anwesenheit in Sachsen kam ich auf dem Dampfschiffe zwischen Dresden und Pillnitz mit 2 jungen Pastoren zusammen. Der eine von ihnen trug einen ganz netten kleinen Backenbart, der andere lange Haare am untern Theile des Kinnes. Beide Herren, mit denen ich bald in einem Heiteren Gespräche vertieft war, schwärmten für die Bartfreiheit der Geistlichen; ich theilte selbstverständ lich ihre Ansicht. Meine liebenswürdigen Reise gefährten von damals haben Mitkämpfer für die Barlfreiheit gefunden. Auf einer Versammlung süd steirischer Geistlichen wurde die Bartfrage in Er wägung gezogen und einstimmig der Beschluß gefaßt, an den Bischof das Ersuchen zu stellen, die Bart freiheit für seine unterstehenden Geistlichen zu ge währen. In der Begründung des Gesuches beriefen sich die Herren darauf, daß nicht nur Christus und seine Apostel, sondern auch viele Päpste, Bischöfe und Priester Bärte getragen hätten. — Papst Leo III. befahl aus lauter christlicher Liebe und Friedfertigkeit dem römischen CleruS zum Unterschiede von der griechischen Geistlichkeit unbärlig im Reiche Gottes herumzuspazieren. Freilich, die Priester im mittel alterlichen Deutschland fanden im Barte noch zu viel männliche Würde, als daß sie sich alle dem päpstlichen Machtspruche gefügt hätten. Das letzte Barthärchen verschwand erst von dem geistlichen Kinn, als cs zum guten Tone gehörte, in jeder Hinsicht der französischen Mode zu huldigen, und als die 2 fränkischen Ludwige es als Verdienst erklärten, so weich und glatt im Gesicht zu sein, wie ihre Mai tressen. Lor einigen Tagen fand man hier auf den Straßen zu wiederholten Malen schlechte gedruckte Drohbriefe, in denen das Ministerium und der Bürgermeister gröblich insultirt wurden und eine große Arbciterdemonstration angckündigt wurde. Nicht nur einzelne kleine Zeitungen, welche vom Scandal ihr elendes Dasein fristen, sondern auch die großen feudalen Blätter ergriffen mit Gier die Gelegenheit, um politisches Capital daraus zu schlagen, rind um Aufruhr, Revolution und Pelroleumbrände vorher zu lagen, und den guten Spießbürger befiel ein Gruseln. Die Polizei aber that ein anfänglich verspottetes Meisterstück, sie schrieb durch Anschlag zettel eine Belohnung von 15 fl. (sage 15 Gulden) aus, die sich der verdienen könne, der den Drucker oder die Verbreiter dieser Pamphlete zur Anzeige brächte. Ganz Wien lachte und war beruhigt, indem es sich sagte, daß wenn die Polizei irgend einen Grund hätte, ernstliche Ruhestörungen zu befürchten, sie jedenfalls eine viel größere Belohnung auf Ent deckung der Urheber aussetzen würde. Die Polizei hat vollkommen ihren Zweck erreicht, die Demon stranten waren lächerlich gemacht, die guten Bürger können wieder ruhig ihren Geschäften nachgrhen. Das hiesige Organ der Socialdemocraten „Der Volkswille" widmet In seinem heutigen Blatte der „Stellung der Parteien zur Nothlage" einen sehr ruhig und verständig geschriebenen Auffatz, in welchem <s unter Andere« de« Feudalen die Versicherung giebt, daß ihuen die Gelegenheit, im Trüben zu fischen, nicht geboten werden würde, und daß von einer Demonstration vor dem Abgeordnetenhause nie die Red« gewesen wäre, daß sich vielmehr die Partei ganz einfach darauf beschränken würde, in einem Memorandum an das Präsidium des Abgeordneten hauses die Wünsche und Forderungen der Arbeiter gelangen zu lassen. Zugleich hat die Polizei Erhebungen darüber anstellen lassen, wie viel Arbeiter in Wien dermalen beschäftigungslos sind; ich führe Ihnen nachstehend das amtliche Berzeichuiß an, denn ich glaube, daß diese Zahlen auch für das gewerbthätige Sachsen Interesse haben, da man aus denselben ersieht, welche Branchen jetzt hier am meisten darniederliegen. E« wurden als arbeitslos erhoben in Wien und den Vororten: Manufacturarbeiter 5600, Arbeiter der Eisenbranche 4200, Bauarbeiter 3400, Bäckergehilsen 860, Galantcriewaarenarbeiter 1450, Schuhmacher 280, Tischler- und Drechslergchilfen 640, Schneider gehilfen 400, Tagelöhner 2000, zusammen 18,830. Es verdient hierzu bemerkt zu werden, daß im Laufe der Monate December und Januar beiläufig 14,000 Arbeiter der verschiedensten Beschäftigungs- categorien Wien freiwillig verließen, ferner, daß auf dem Wege der polizeilichen Abschiebung in demselben Zeiträume gegen 800, zumeist Unterstands lose Indi viduen, aus dem Stadtgebiete gebracht worden sind. Ein Blick auf die vorstehenden Ziffern lehrt, daß die Zahl der Arbeitslosen mit der Lage der betreffenden Gewerbe in directem Verhältnisse steht. Die Manufakturbranche, welche fast hoffnungslos darniederliegt und deren größte Etablissements entweder ganz geschlossen sind oder nur ein Minimum produciren, stellt das größte Kontingent zu den Arbeitslosen. Zunächst kommen die Arbeiter der Eisenbranche, von denen längst bekannt ist, daß die größten Etablissements um Wien Massenentlassungen vorgenommen haben. Leider scheint für diese Branche noch nicht einmal der Zenith der Crisis erreicht zu sein, da in der Maschinenfabrikatiou noch weitere Reduktionen an gekündigt werden. Das namhafte Contingent, welche» die Galanterie-Industrie zu den Arbeitslosen stellt, darf in einer Zeit, wo der Luxus entschieden zu rücktritt und fast Jedermann sich Beschränkungen auferlegt, nicht verwundern. Es muß aber hinzu gesetzt werden, daß in der neuesten Zeit für Arbeits plätze in Deutschland zahlreiche geschickte Arbeiter der Bronce- und Lederwaarcnbranche engagirt wurden. Die Zahl von 2000 beschäftigungslosen Tagelöhnern kann nicht als beunruhigend hoch bezeichnet werden. Die vorstehend ungeschminkte Darstellung der Sachlage giebt gewiß der traurigen Wahrheit von dem Darniedcrliegen einzelner Gewerbebranchen Zcugniß, beweist aber auch, daß die Arbeitslosigkeit noch nicht jene Dimensionen angenommen hat, die man im Lager der Feudalen zu wünschen scheint. Doch da» war rin traurige» Thema, mit de« möchte ich meinen Brief nicht gern schließen, also schnell „rin ander Bild". Bor wenig Tagen war Hofball, er fiel glänzend an», über 4000 Personen waren in den weiten SÄen, die freilich fast zu rag wurdrn, versammelt. Drr Ton war, wie bei allen