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M glaußen» «1» merkwürdige« pshchologisthe« Phänomen, welche« einen charakteristischen Zug in der Geschichte unserer Zeit bildet. Dieser Glaube hat jedenfalls eine Geste, die ihm Grund zu geben scheint. ES find näm lich eine ungeheure Masse von großartigen Unterneh mungen, wir erinnern nur an Eisenbahnen, Fabrikan lage«, AktlengesellschastSwesen aller Art, in der neuern Zelt in allen Ländern InS Leben gerufen worden, welche nicht nur enorme Anlagecapitale In Papierscheine ver wandelt haben, sondern die alle nur in FriedenS- z eit e'N rentiren können und die bei einem Kriege zum größten Theil aufs Spiel gesetzt werde«. Das große Publikum steht nun keinen genügenden Grund ein, und wir gestehens wir begreifen ihn auch nicht, weshalb man diese durch das ganze StaatSleben verzweigten und an Umfang ungeheuren Unternehmungen den Wechsel fällen d«S Kriege- preiSgeben will. Niemand mag sich in' Europa einreden lassen, daß man um einer Menzi- koffschen Note willen, wegen den Schlüsseln zur Kirche von Bethlehem und wegen deS russischen ProtectoratS über die türkischen Christen sich die Hälse in Europa brechen und unsere großartigen Gewerbe ins Stocken gerathen lassen sollte. Wer denkt, der Streit zwischen Rußland und der Türkei sei der Kern der Frage, der wird auch nicht die Gefahr deS Krieges begreifen. Der Streit mit der Türkei ist weiter nichts als eine vom Zaune gebrochene Gelegenheit, wodurch Rußland England zu bekäm pfen sucht. Wer den, langen Kampfe russischer und englischer Interessen in Asien gefolgt ist, dem erscheint die Türkei nur als das Schlachtfeld, auf dein nun der Kampf vorerst entbrannt ist. Bor drei Jahren hatten die Engländer den diplomatischen Einfluß Rußlands in der Türkei überwältigt; das war der erste Schritt; der zweite waren die mehrjährigen Rüstungen Rußlands. Der Krieg war eine entschiedene Sache, ehe noch Fürst Menzikoff mit der Glocke in Konstantinopel läutete. Bon diesem Gesichtspunkte auS betrachtet, haben viele Frie dens- und Berinittclungs,ersuche eine sehr untergeordnete Bedeutung; man will damit meist Zeit gewinnen, oder sich unschuldig wie eine Jungfrau darstellen. Diese Frie densversuche bilden das vorläufige und schwer verdau liche Futter für die Journale. England hat seither den Vortheil von dem Zuwarten gehabt, daß sich der all gemeine Haß auf Rußland, den Angreifer und Frie densstörer in Europa, gelenkt hat. Die langsame, in« Laufe von Jahrzehnten allmälig heranreifrnde KrifiS ist eS, woran das Publikum nicht glauben will, und wenn man auch am Enoe daran glaubt, so wendet man ein, eben weil der Zwiespalt schon seit langen Jahren gereift sei, und schon oftmals wieder beigelegt worden sei, so werde die Gefahr auch diesmal vorübergehen. Darauf antworten >rir, daß eine durch Borschauung und Berechnung so bekannte Regierung, wie die rus sische, nicht um einer zweifelhaften Chance von Krieg oder Frieden willen die ganze Macht ihres Reichs von Asten und Europa aufbietet, und daß England ebenso wenig die furchtbaren Rüstungen in solcher Ausdehnung unternommen hätte, wenn man auf beiden Seiten nicht im BorauS überzeugt gewesen wäre, daß eS zum Schlage kommen werde. Von dem Augenblicke au, wo die eng lische Flotte in der Beflka-Bay lag, und »inen Schlag von dem Brennpunkte des Streite-, von Cvnstantinv- pel, mit Gewalt hindern konnte, war auch der Krieg zwischen Rußland und England so gut Wit erklärt. Der Krieg war nur dann damit nicht erklärt, wenn Rußland alle seine lang geförderten Pläne auf Affeq und die Türkei aufgab, d. h. wenn Rußland darauf verzichtete, eine wahrhaft unabhängige Weltmacht zu werden. Ein solches Verzichtleisten wird kein Denken der dem klugen und konsequenten Kaiser Nicolau- zu trauen. Dennoch lag in diesem Stande derDinge für die Frie densfreunde und FriedenSgläubigen eine Hoffnung, wenn eS gelang, den Streit auf die Türkei und Rußland allein zu beschränken, ohne Einmischung Englands. Dazu hätte aber die Türkei viel mächtiger sein müssen, als sie ist. Die letzten Unfälle der Türkei in Asten und bei Sinope lassen aber eine Beschränkung deS Kampfes aus die Türkei als unwahrscheinlich erscheinen. England wird wahrscheinlich schon im nächsten Frühjahr mit Ruß land in offenen Krieg kommen; das verhehlt man sich in England nicht mehr. Der Kampf wird auch bald auf der Ostsee entbrennen, und ob die übrigen europäischen Mächte ihre Neutralität auf die Dauer aufrecht erhalten können, ist die Frage. Deutschland ist bei einem Kriege nicht zunächst, son dern nur in zweiter Reihe betheiligt; aber es hat, zwischen zwei mächtigen Nachbarn liegend, zwischen Ruß land und Frankreich, seine Streitkräfte von Jahr zu Jahr vermehren müssen. Dasselbe ist in fast allen europäischen Ländern geschehen. Die verschiedenen Mächte stehe» einander mit unversöhnlichen Ansprüchen gegenüber und keine will dieselben aufgeben. Die Zeit rückt immer näher heran, wo endlich die Waffengewalt zunächst zwischenRuß- land und England entscheiden soll. Dieses Ergebniß war schon seit langen Jahren erwartet und gefürchtet: schon vor ZOZahren sprach der alte Wellington im Parlamente: wenn der Kampf in Europa entbrenne, würden die Leben den den ersten und das neugeborene Kind den letzten Ka nonenschuß hören. Das erklärt die ungeheuren Anstren gungen, welche in den letzten 25 Jahren gemacht worden sind und noch gemacht werden, um den Frieden zu erhalte». Ob die jetzige Generation sich bereit halten muß, den Kampf zu bestehen, wissen wir nicht. Dari» hat aber Welling ton sicher unrecht, daß er dem Kampfe eine so lange Dauer weissagt. Bei den ungeheueren Kriegsheeren und Flotten der Gegenwart kann die Sache in einigen Hauptschlachten entschieden sein. In der jetzigen Zeit ist eine engere Vereinigung von ganz Deutschland das ernsteste Streben unserer Staats männer; diese Nothwendigkeit ist allgemein anerkannt. Man hat die allgemeine Ueberzeugung, daß nur in einem einige» Zusammengehen Aller Rettung zu finden ist vor den drohenden Gefahren. Deutschland hat an den jetzi gen Zerwürfnissen keine Schuld; seine Staatsmänner ha ben alles Aufgeboten, den bösen Augenblick hinauszuschie ben. Aber Rußland und England stehen sich zu feindlich in einem Kampfe um die Weltmacht gegenüber. Rußland kann nicht mehr zurückweichen, wenn es nicht seine Stel lungen, die eS seit Jahren errungen, preiSgeben will; Eng land hat auch nicht Lust, seine Interessen in Asten und der Türkei Rußland zu überlassen. Hält Frankreich treu zu England, behalten Oesterreich und Preußen ihr« Neu tralität, so wird der Kampf Deutschland nicht berühren. Wir sagen nicht, daß der Krieg zwischen Rußland und England nothwendig ausbrechen müsse; aber die Wahrscheinlichkeit dieses Kampfe» wegstreiten zu können, dazu finden wir nicht ausreichende Gründe.