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Saß im Zug und habe immer daran denken müssen: jetzt, jetzt wird er es tun. Es war eine Ahnung, verstehen Sie, die einem Wissen gleich kommt. Manchmal, da kann man seine Zukunft mit einem Vorgefühl be rühren, kann sie wie durch eine Glaswand hindurch sehen. Wenn wir immer wieder überrascht sind, dann deshalb, weil wir unsere Ahnungen vergessen. Aber er wußte, daß er unheilbar krank war, sage ich, machen Sie sich keine Vorwürfe. Es waren nur Monate der Qual, die er sich erspart hat. Ich habe es gewußt, und ich habe es gewollt. Saß im Zug und betete, daß er es tun möge, weil ich kraftlos war. Und Gott hat mich erhört und hat ihm ein Messer gegeben und Mut, damis er machen konnte, daß das Blut ausläuft. Sein Tod, das war mein Wille. Sie redet leise und mehr zu sich selbst. Ich sitze auf dem Stuhl ihres Mannes und mir ist, als beträfe mich das Gesagte. Auch geht der Schmerz in der Brust in Herznähe wieder los. Ich müßte reden, um diesen Druck loszuwerden, aber ich kann nicht. Für mich gibt es jetzt keinen möglichen Satz, der über sich selbst hin ausweisen könnte. Was ich auch sagte, es wäre wie jene sagenhafte Be rührung, durch die alles Leben erstarrt. Ich sitze auf dem Stuhl, auf dem er immer saß und suche nach Worten. Sie sitzt mir, nun wieder am Schreibtisch, gegenüber und sucht nach Ent schuldigungen. Sobald sie die Lippen öffnet, werde ich mir die Ohren zuhalten, denn ich möchte nicht anwesend sein. Aber auch sie ist es nicht, was meine Lage erleichtert - stiert auf das Foto, das ihre Gegenwart aufsaugt und sie allmählich sterben läßt. Was für ein Leben, was für eine Trauer, ich rauche ohne Unterbrechung: eine Art von Mitleid, von Hilfestellung. Sie haben keine Schuld, sage ich noch einmal, er wäre ganz sicher bald gestorben, wovon ich tatsächlich überzeugt bin.