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Der Besuch Als sie mir die Tür öffnete, fiel ich in meine Vergangenheit, die ein dunkler Gang ist, auf dem es nach abgestandenem Essen riecht. Ich trat ein und spürte wieder diesen dumpfen, unbestimmten Druck in der Brust in Herznähe, dem ich damals, als ich noch hinter einer dieser vielen Türen wohnte, fast täglich ausgesetzt war. Was dieser Druck zu bedeuten hatte und was er jetzt bedeutet, weiß ich nicht, möglicherweise hängt er damit zusammen, daß ich ihr Sohn bin, sie aber nicht meine Mutter ist. - Aber ich konnte ihr nicht helfen, nicht mehr, als man es mit ein paar unverbindlichen Worten und freundschaftlichen Handgriffen tut. Auch verstand ich von dieser Art Leben nichts. Warum bleibt sie bei ihm, fragte ich mich, nimmt all diese Entbehrun gen auf sich, die Kinderlosigkeit. Oft genug wurde ich Zeuge von Szenen gegenseitiger Kränkung. Sie kränkte ihn mit Liebe, er sie mit Haßr Sie litt an seinen Zornesausbrüchen, an seinen Handgreiflichkeiten, an seinen Worten. Er litt an ihrer Fürsorge, die ihm das Leben so erträglich wie mög lich machen sollte, litt an ihrer klaglosen Aufopferung, an ihrer Zu wendung, litt und verletzte sie, wo er nur konnte. Er wollte sie zerstören, um sich zu zerstören, mit Verächtlichkeit, mit Gewalt. Je härter jedoch die ein- oder andere Gemeinheit war, je weicher wur den ihre Züge, sie lächelte und zwinkerte mir zu, wurde ich unfrei williger Zeuge. Am Anfang versuchte sie noch, mich zu täuschen, tat, als seien die Brutalitäten und Absonderlichkeiten harmlose Späße. Später, als sie sicher sein mußte, daß ich Bescheid weiß, wollte sie, daß ich ihr Sohn werde, weil die Scham unerträglich war. - Und da begann dieser dumpfe Druck in Herznähe.