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Beilage ;u Rr. 131 des „Amts- und Aiyeigeblattes". Eibcnstvlk, den 23. Dezember 1893. Nur eine Woche. Kriminal-Roman von M . . . . (Schluß). . Und als wollte er seinen unterdrückten Gefühlen Luft machen, fügte er hinzu: „Es ist ja möglich, daß ich nach vielen Jahren, wenn wir beide, Sie und ich, alt geworden sind, noch einmal Wiederkehre — dann wollen wir uns Wieder sehen — Sie und ich." Der Zug setzte sich in Bewegung — er sank in die Polster des Wagens zurück. — Die Lokomotive pfiff und stöhnte, die Wagen dröhnten und krachten — und in der Ferne verklang das eintönige Läuten der Glocken. Vor dem Hause in der Wall-Street, das Mr. Percy Bckrker bewohnt, steht ein Mann mit tief in die Augen gedrücktem Hut und aufgeschlagenem Rock kragen und blickt zu den Fenstern hinauf. Es mag befremdend erscheinen, daß sich Percy BarkerS Privat wohnung in der Wall-Street befindet, da diese doch sonst ausschließlich Geschäftsstraße ist. Aber Percy Barker ist ein Mann, dem es unmöglich ist, weit ent fernt von seinem Contor zu wohnen. Es ist dunkel dort oben. Nicht der leiseste Licht streif ist hinter den Fenstern sichtbar. Percy Barker ist sicherlich nicht zu Hause. Für ihn hat der Ruhe tag keine Bedeutung. Jetzt öffnet der Mann die Hausthür und steigt die Treppe hinan. Er schellt. Dann horcht er. Aber es ist still, kein Laut dringt an sein Ohr; kein Schritt nähert sich der Thür. Der Diener hat sich die Abwesenheit seines Herrn zu nutze gemacht. Jetzt zieht er ein Schlüsselbund aus der Tasche. Er probirt einen Schlüssel nach dem andern. Bald hat er den rechten gefunden. Die Thür öffnet sich, er tritt ein. Ein Einbrecher so früh am Tage? Nein, kein Einbrecher, sondern ein Mann, der in seinem vollen Recht ist — ich bin es — John Moore, der Detektiv! Mr. Percy Barker oder die Dienerschaft kann jeden Augenblick heimkehren. Da gilt cs, schnell zu handeln. Ich bin niemals hier gewesen — ich will untersuchen, nachforschen — vielleicht wird es mir gelingen, etwas zu finden. Ich ziehe eine kleine Blendlaterne aus der Tasche. Ein anderes Licht wage ich nicht anzuzünden. Bei dem unsicheren Schein taste ich mich vorwärts von Zimmer zu Zimmer, bis in Mr. Barkers Allerheilig stes, sein Schreibkabinet. Denn hier muß sich das, was ich suche, befinden. Wenn es sich überhaupt bei ihm findet. Ich mache mich ans Werk. Ich setze die Laterne auf den Tisch — St! Rührte sich da draußen nicht etwas? Nein, es ist nur die Einbildung gewesen — und ich fange an unter den Papieren auf dem Tisch zu suchen. Aber das Gewünschte findet sich nicht. Vielleicht liegt es an einer anderen Stelle. Vielleicht hat Percy das Buch zerstört, es ver brannt, in die See geworfen? Aber nein, der Inhalt des Buches, wenigstens ein Theil desselben mußte von unendlichem Werth für ihn sein. Wo aber in aller Welt soll ich suchen? Zwischen den Büchern! Deren Anzahl ist nicht groß. Es bedarf keiner langen Zeit, die zu durchstöbern. Ich schüttele jedes einzelne Buch, ich durchblättere sie in fliegen der Eile. Aber auch hier ist nichts zu entdecke». Die matten Strahlen der Blendlaterne erleuchten schwach das große dunkle Zimmer. Dort giebt es tausend Stellen, an denen eine solche Kleinigkeit sich verbergen läßt — tausend Stellen und doch nur eine ist die rechte. Aber warum sollte es nicht auf dem Contor sein? Aus dem einfachen Grnnde, weil Percy Barker — der Mörder — diesen gravirenden Beweis, diese Erinnerung nicht den ganzen Tag in seiner unmittel baren Nähe haben will. Wenn der Abend kommt, dann sitzt er vielleicht hier an seinem Schreibtisch — er hat hier wohl gestern und vorgestern so gesessen — das unheilschwangere Papier vor sich. Dann steht sein erinordeter Kompagnon vor ihm, dann empfindet der starke Mann ein gewisses unnennbares Grauen — er empfindet — Reue? Nein, Percy Barker bereut die Mordthat nicht, die er kalten Blutes be gangen hat. Wäre dieselbe noch ungeschehen, würde er sie sicher ausführen. Ich suche, suche Es giebt keinen ^Vinkel im Zimmer, den ich undurchforscht gelassen, keinen Gegenstand, den ich nicht gründlich durchstöbert habe. Stein, das Notizbuch ist nicht hier. Ich bin meiner Sache ganz sicher. Und doch — ist eS nicht anzu nehmen, ist eS nicht völlig wahrscheinlich, daß der Mörder es hier in der Nähe haben will, um eS jederzeit vernichten zu können? Ja natürlich; aber wo, wo? Die Thür zu dem Nebenzimmer ist offen. Mecha nisch fällt mein Blick auf einen kleinen Tisch, der in der Mitte desselben steht. Auf demselben steht eine Schale, eine elegante Nickelschale. Der Boden der Schale ist mit Visiten karten, Einladungen und Ähnlichem bedeckt. Es konnte mich interessiren, was für Verkehr Percy Barker hat. Freilich ist das interessant, denn hier zwischen Karten und Briefen stoßen meine Finger plötzlich auf einige kleine dünne Blätter, die mit feiner, schwer leserlicher, aber mir wohlbekannter Schrift beschrieben sind. Die blauseidcnen Deckel sind abgerissen — Percy Barker ist ein vorsichtiger Mann — und von dem ganzen Buch sind nur noch diese wenigen Seiten übrig geblieben! Und bei den unsicheren Schein der Laterne lese ich, was Benjamin Hood einst nieder geschrieben hat. Percy Barker war schlau, sehr schlau! diesmal hatte er sich jedoch verrechnet. Die List, die er an wandte, war nicht seine eigene Erfindung, ich hatte schon früher davon gehört. Wenn er diese Dokumente, freilich in veränderter Gestalt und zum Theil ver nichtet, am Hellen lichten Tage vor aller Welt Augen hinlegte, so war cs, weil wohl Niemand auf den Gedanken kommen konnte, sic hier zu suchen? Aber wer weiß — vielleicht kam Mr. Barker schon heute auf deu Einfall, die Dokumente zu zer stören. Vielleicht war es da sicher, sich ihrer sofort zu bemächtigen? Aber dann würde er ja sofort Ver dacht schöpfen. Ich begnügte mich damit, vorsichtig eines der Blätter loszulösen. Es steht nur ein Satz darauf und auf beiden Seiten ist weißes, unbeschrie benes Papier, so daß er das mangelnde schwerlich vermissen wird. Jetzt ist die Sache klar, vollkommen klar. Nach wenigen Augenblicken liegt Mr. Percy Barkers Wohnung wieder still und dunkel da, wie vorher. Zu Hause angelangt, schrieb ich meinem Versprechen gemäß einen Brief an den Mann, dessen Wohnung ich soeben verlassen hatte. Der Brief enthielt nur wenige Worte, doch waren sic desto bedeutungsvoller. Am Schluffe stand ein dick unterstrichener Satz: „Ja, nun ist er gefunden!" XX. Der siebente Tag, die siebente Stacht. Langsam wie Schnecken waren die Stunden dahingekrochcn. Ich habe viel zu thun gehabt, uud doch ist die Zeit mir so entsetzlich lang geworden. Es ist neun Uhr Abends; ich stehe auf dem Trottoir vor Barker und Hoods Marmorpalast. Das riesenhafte Gebäude liegt schwarz und schweigend im Schatten des Abends da. Nur ein einsames Licht scheint dort oben. Es brennt in Percy Barkers Privatcontor. Dort sitzt er noch über seine Bücher gebeugt, nachdem alle seine Gehilfen und Untergebenen sich längst entfernt haben. Er muß ungewöhnlich fleißig und — ungewöhnlich geldgierig sein. Die unermeß lichen Schätze, die einstmals seiner ausgestrecktcn Hand entglitten sind, will er um jeden Preis wiedererriugen. Ich gehe vor dem Haus auf und nieder. Ja, da kommt der, auf den ich gewartet habe. Es ist Morrison. Ich habe ihm Alles mitge- theilt und der Prachtbursche hat mich ohne Zögern zu meinem Erfolg beglückwünscht. Morgen wird er Nelly Alles erzählen. — Wir gelangen durch eine Hinterthür ins HauS. Wir schleichen die Treppe hinauf und stehen vor Percy Barkers Zimmer. Diesmal hoffe ich ungestört mit ihm reden zu können, — Morrison verbirgt sich. Es ist unmöglich, ihn im Dunkeln zu entdecken. Ich klopfe an die Thür. Feste Schritte ertönen drinnen. Im nächsten Augenblick wird die Thür aufgerissen. „Wer ist da? Sie sind es, John?" Ich konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. John war ohne Zweifel ein alter Buchhalter oder ein Freund Percy Barkers, der wußte, daß er um diese Zeit hier zu sein pflegte. „Ja, es ist John — John Moore!" Ich trete ein. Mr. Barker läßt seine blitzenden Augen über mein bleiches Antlitz gleiten. Wie stets, im entscheidenden Augenblick fühle ich mich ruhig und sicher. „Mr. Moore!" Die tiefe Stimme hatte einen eigenthümlichen Klang. „Sie hier? Suchen Sie mich?" „Wen sollte ich sonst wohl suchen, Mr. Barker? Es ist eine ungewöhnliche Zeit, das gebe ich zu, und Sie haben allen Grund, verwundert zu sei«. Doch ich will Ihnen die Sache mit wenigen Worten auf klären." Er deutete mit der Hand aufs Sofa und sagte mit ernstem Ton: „Nehmen Sie Platz." Ich rückte einen Stuhl an den Schreibtisch heran und setzte mich. „Mr. Barker, Sie erhielten doch meinen Brief?" „Freilich; und ich danke Ihnen, daß Sie Wort hielten." „Wie gesagt, Mr. Barker, nun ist die Sache klar, völlig klar." Er schien sich zu besinne». Endlich sagte er: „Mr. Moore, heute Nachmittag erfuhr ich eine Neuigkeit. Man sagt — natürlich kann Niemand eS mit Bestimmtheit behaupten — er sei aus der Stadt entflohen. Das ist also nicht wahr?" Er trat einen Schritt näher an mich heran. — Und ich antwortete: „Nein, cs ist nicht wahr. Er befindet sich noch hier in der Stadt, und es soll nicht mehr lange währen, bis er, wie gern er es auch möchte, nicht mehr von dannen kommen kann." Etwas, das einem Seufzer glich, entfuhr Mr. Barkers Brust. Er sank in einen Stuhl. Hielt er sich nicht für vollkommen sicher? Em pfand er ein Gefühl der Freude, daß sein schändliches Verbrechen mit einem so glänzenden Erfolg gekrönt wurde? — Er besaß keinen Mitschuldigen — an den armen Sani dachte ich schon längst nicht mehr — nnd wer sollte auch wohl auf den Gedanken kommen, daß er, Percy Barker, der Mörder sein konnte? — Er hatte von Archibald Forsters Abreise gehört. Sein Mißtrauen war sofort wachgerufe». Ich hatte keine Zeit zu verlieren gehabt. Percy Barker sieht mich an. Weshalb zögere ich noch, mit der Wahrheit herauszurücken? Wenn er meine Gedanken hätte lesen können, würde er ge wußt haben, daß ich Gesellschaft haben wollte. Jetzt begann ich: „Sie erwähnten vorhin, Mr. Barker, daß Archi bald Forster einem Gerücht zufolge die Stadt ver lassen habe. Noch eiu anderes Gerücht kursirt in der Stadt." „Und zwar welches?" „Ja, die Sache ist ziemlich umständlich, dafür aber auch außerordentlich interessant, und cs verlohnt sich wohl der Mühe, die Geschichte anzuhören. „Vor Kurzem gab es hier in der Stadt eine Firma — sie besteht den: Hamen nach noch heute — und au der Spitze dieser Firma standen zwei Kompagnons —" „Was? " Er erhob sich zur Hälfte von seinem Stuhl, setzte sich aber sogleich wieder nieder. „Es hat nichts zu bedeuten — fahren Sie fort, Mr. Moore!" „Dann begann der Eine der Beiden sich ohne Wissen des Andern auf die abenteuerlichste» Speku lationen cinzulasscu. Er betrieb die Sache aber so heimlich, daß Niemand davon etwas ahnte. Doch die Stunde der Entdeckung nahte heran! Der be stohlene Kompagnon hatte kein Erbarmen. Und da, um seine Ehre, sein Alles zu retten, lockte der Dieb seinen Kompagnon unter einem schlau erfundenen Vor wand in ein berüchtigtes Stadtviertel und wurde an ihm znm — Mörder!" Der Mann im Schreibstuhl athmete schwer auf. Sollte er reden oder nicht? Was konnte er nur thun? Noch hatte ich ja keinen Namen genannt. „Das Gerücht scheut sich auch nicht, bestimmte Personen zu bezeichnen, Namen zu nennen." Und diese Namen sind: Benjamin Hood, Percy Barker!" Er zitterte, als schüttele ihn ein Fieberfrost — seine Hände griffen nach der Stuhllehne — mit ge waltsamer Anstrengung erhob er sich — seine Augen sprühten Feuer. „Beweise!" knirschte er, „Beweise!" „Im Union Klub fand ich zwei blaue Seiden fäden auf dem Rock, den Sie trugen, als der Mord begangen wurde. Den Schlüssel zu Hoods Privat schrank, den hatte er vergessen! Ja, natürlich! Sie werden gut zwischen seinen Papieren aufgeräumt haben! Und das Notizbuch, das bei Ihnen auf der Visitenkartenschale lag! Hier, Percy Barker, hier in meiner Tasche steckt das Blatt, das ich gestern aus dem Buch ausriß! Hier steckt das Messer des Un glücklichen, das Ihnen zum Werkzeug wurde! Sie wollten Dienstag Abend Bauplätze besichtigen — eine passende Gegend, eine passende Zeit, um einen Mord zu begehen, uin Ihren Kompagnon zu erdrosseln!" Er stieß einen wahnsinnigen Schrei aus, schwankte einige Schritte an mich heran und versetzte mir mit der geballten Faust einen Schlag ins Gesicht, so daß ich seinen Arm, den ich ergriffen hatte, freigcben mnßte. Er stürzte sicb über mich und versuchte, mich zu erdrosseln, wie er Benjamin Hood erdrosselt hatte Ich hatte es mit dem ehemaligen Goldgräber zu thun. Ich stieß einen Schrei aus. Morrison stürzte herein. Er ergriff Percys einen Arm, ich bemächtigte mich des anderen — Percy Barker ließ den Kopf mit dem langen grauen Bart auf die Brust sinken — ein unheimlich röchelnder Laut entstieg seiner Brust. ' * Die Nacht ist bereits weit vorgeschritten. Die Uhr geht auf elf. In rasender Eile rollte der Wagen dahin. Er hält vor der Polizeistation. Ich und