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2 "Und immer noch erregen lebend Stimmen sich/für süße bürgerliche Freiheit," Ironie. Na gut, Ironie, aber voller Solidarität, wenn auch erzwungenermaßen tatenloser (denn welche Regierung wird ge stürzt von einem Toast, ein paar furchtlosen Liedern!). Sie wis sen ja, was sie nicht wissen wollen können: Diese Umsturzversuche sind genauso umsonät wie der ihrige. Ihnen ist klar, vor der Ewig keit, vor der abstrakten Geschichte zählen die Opfer nicht, die Verluste und blutigen Fehlschläge. Und selbst wenn es gelänge - ge riete eine siegreiche Umwälzung nicht in Gefahr, nur rohes Zer schlagen roher Verhältnisse zu sein, ohne praktische Alternative also? Das Schwarz der Pferde wie die Dunkelheit Europas selbst, fruchtbar wie furchtbarl "Beharrlichkeit und einfach Arbeit." Was heißt das? Schneisen zu schlagen in die Wälder Sibiriens, täglich? Sich aufsparen für eine bessere Zeit, bessere Gelegenheit? Zur Legende werden in den Hauptstädten? Nicht vielleicht auch gegen alle Vernunft zu ent brennen, ohne etwas vergessen zu haben? Gedächtnis. Geduld. Die ^Perspektiven vermischen sich. Verwirren sich hoffnungslos und voll Aufbegehren. Wer sagt, wem sagt man "die Dinge, welche nicht ver wesen", aus denen die Flamme wieder hochschlägt? Ein Trinkspruch wie ein Gleichnis, wie die letzte Zeile eines Gedichts allein kann das noch Zusammenhalten; "Rußland, Lethe, Loreley," (nachdem er vorsorglich von Ironie abgesichert wurde). Unabänderlihhkeit, Ver gessen, Betörung? Die Sprache hält es zurück. Die 3chöne Moral von der Beharrlichkeit wird von der Torheit der Worte aufgehoben. Und ist doch nicht verschwunden. Der Dekabrist ist in den Kreis der anderen gezogen worden, die das Grübeln, die Zweifel vergessen (wollen) in dem Moment, als der "Wunsch" erwähnt wird. Nachdem er in der vorletzten Strophe noch einmal versucht hat, sich seiner Vorbehalte zu versichern - geht der Dekabrist in der letzten Stro phe in ihnen, den anderen, auf. Die Schlußzeile teilt er mit ihnen. Und nicht nur das. Mandelstam hat diesen einen Menschen aufgebaut und vorgeschoben, um sich im gegebenen Moment mit 'ihm zu identifi zieren. In dem Moment, wo, "verwirrt nun alles", sich die Zeitebenen sämtlich durchsichtig überlagern. 1917, 18481 1825, 1789, womög lich gar die Zeit der altrömischen Republik, mit deren Details sich die französischen Revolutionäre seinerzeit geschmückt hatten, so wie der SDAPR Vergleiche aus der Französischen Revolution an gehängt wurden oder sie sich diese selbst aufhalste. Bei diesem Vorgang der Überschneidungen jedenfalls kommt Mandelstam dem Dekabristen seines Gedichts sehr nahe, auch wenn es so aussehen könnte, als sprächen die angesammelten Einzelheiten dagegen. Aber sie lassen die tatsächliche Übereinstimmung nur umso mehr hervortre ten. ©fAuch der Leser wird mit eingeschlossen, entweder überrumpelt oder geduldig überredet. Man kann nicht feststellen, ob die Ge fährten des Dekabristen, die vor allem durch ihre Stimmen be schrieben werden, mit "wir" oder mit "Sie" bezeichnet werden mäx müssen. eine Übertretung in die Sphäre des Ich widerspricht allerdings aufs deutlichste dem alaneistischen Prinzip, die Dinge selbst vor den Leser hinzubauen und dann ohne Kommentar aus dem Gedicht zu gehen. Der Dichter scheint sich hier auch dagegen ge wehrt zu haben, mit vereinnahmt zu werden von seinen Zeilen, wie ebenso der Dekabrist, um dann jedoch nur umso mehr unter die Gegen stände seiner Rede zu geraten. Mit der Gründlichkeit und Kaltblü tigkeit des Akmeisterx legt er den Akmeismus beiseite. Schon der Satzbau verliert den Klassizismus. Fragmente kompliziert zu den kender Sätze umschwirren einander. Partikel wie "und" leiten gan ze Strophen din. Stilebenen überschneiden sich. Das Gedicht, so sehr es ein Ganzes ist, stellt sich dar als Bruchstücke eines Ge sprächs. Mündliche Rede wird gesteigert und wiedergewonnen. Das Ohr des Hörenden wird in Schwingung k versetzt. Die Sprödigkeit, die Widersprüchlichkeit seines Inhalts machen die formale Schön heit des Gedichtes aus, seinen Reichtum, seine Stofflichkeit, selbstverständlich unter der Voraussetzung der sozusagen handwerk lichen Meisterschaft sosä sowie von "Beharrlichakeit und einfach Arbeit". Ein Beweis wird aufgestellt, dem seine Behauptung folgt.