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überleben in Kanada und anderswo Essay Je mehr ich mich im Zuge dieser Arbeit mit Margaret Atwood beschäf tigt habe, um so mehr mußte ich feststellen, daß ich mich auf brü chiges Eis begebe. Margaret Atwood ist keine Autorin der Schnörkel, der Metaphern um des Versteckspielen willens. Das macht ihre Beson derheit aus unter den seltenen weiblichen Dichterinnen (warum so selten, darüber werde ich noch an anderer Stelle sprechen) und ihre Unverwechselbarkeit bis hin in den europäischen Raum. Margaret At wood reiht die Fakten nüchtern aneinander, wie eine Ärztin, die die Symptome einer Krankheit sachlich analysiert. Die Krankheit heißt bei ihr "westliche Industriegesellschaft und ihre patriarchalischen Strukturen" - ein roter Faden, der sich durch ihre sämtlichen Romane zieht. Eine beunruhigende Krankheit wie ich meine, in einer Zeit, wo als allein see1igmachende Ordnung die Marktwirtschaft gilt. Margaret Atwwood ist 1939 geboren, studierte in Harvard ameri kanische Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart und veröffent lichte bereits mit 23 Jahren ihren ersten Roman "Die eßbare Frau". Was ist kanadische Literatur, was unterscheidet sie von der engli schen und amerikanischen, ist eine zentrale Identitätsfrage, die sie sich in ihrem Essay "Survival" gestellt hat und die sie mit dem in der kanadischen Literatur immer wiederkehrenden Motiv des überlebens beantwortet. überleben im biologischen, existentiellen und kultu rellen Sinne. Gerade die kanadische Literatur ist von schreibenden Frauen mitgetragen wurden, auf deren Tradition sich Margaret Atwood bezieht ("The Journals of Susanna Moodie"). Margaret Atwood sagt da zu: "Wir sind an diesem Ort alle Emigranten, selbst wenn wir hier geboren wurden. Das Land ist zu groß, als daß sich hier jemand völ lig zu Hause fühlen könnte, und in den unbekannten Teilen bewegen wir uns ängstlich wie im Exil, wie Eindringlinge. Dieses Land ist so geschaffen, daß man es für sich erwählen muß; es ist so einfach es zu verlassen - und wenn wir uns für ein Hierbleiben entscheiden, entscheiden wir uns dennoch für eine Dualität." Betrachtet man die Geschichte Kanadas, so wird das Abgrenzungsbedür fnis, die Suche nach einer eigenen Identität, nicht nur im litera rischen Sinne, der Kanadier gegenüber ihrem übermächtigen Nachbarn, nur al 1zudeutlich. Kanada ist ebenso wie die USA ein multinationales und multikulturelles Land, das sich vorwiegend aus englischen, fran zösischen und russischen Einwanderern zusammensetzt. Das Motiv des latenten Antiamerikanismus findet man auch bei Margaret Atwood wie der. Der kanadische Geld- und Kapitalmarkt ist eng mit dem amerika nischen verflochten, der wirtschaftliche Aufschwung begann nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Aufschwung in der Rüstungsindustrie und der Ausbeutung der Bodenschätze. So beträgt der Anteil der USA am Auslandskapital in Kanada über 80% und das spiegelt sich natürlich in den Besitz- Strukturen der größten Unternehmen Kanadas wieder. Umso verständlicher sind die autonomen Bestrebungen der Kanadier, 1