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würde». Ein Bild großstädtischen Elends — wer cS kennen lernen will, der verschaffe sich Eintritt in die Werkstätte der Mäntelnäherinnen in der Residenz — er wird bald gefunden haben, was er sucht. Das junge Mädchen am Fenster starrt »«verweilt und regungslos ins Leere; der Tag geht zur Neige und durch das einzige Fenster, um das sich die sechs anderen Mädchen im Halbkreis an einen Tisch gruppirt haben, bricht die Dämmerung herein. Die Mädchen legen die Arbeit aus den Händen oder lassen die Näh maschinen ruhen, von der drei tagaus tagein in Thätigkeit sind. Es ist vier Uhr und nach der „Werkstattordnung" der Firma 'Nordheim L Sohn ist von 4 bis 4'/, Uhr Pause, in der die Mädchen ihr karges Vesperbrod verzehren könne», wenn sie für solckcs bei dem geringen Lohn von 6 bis 8 Mk. die Woche bei täglich 1 Mündiger Arbeit noch Geld übrig haben. Bei vieren scheint das wirklich der Fall zu sein, während zwei nur eine Tasse schwarzen Kaffee aus der gemeinschaftlichen Kanne trinken und dann neben ihre Gefährtin ans Fenster treten, uni auch einen Blick von dem Stück grauen Himmel zu erhaschen. „Ist Ihnen heute etwas Unangenehmes wider fahren? Fräulein MarbeS?" frägt die eine, eine kleine dunkeläugige Berlinerin, das ins Leere starrende junge Mädchen. „ Sie sind heute so still und niedergeschlagen?" Die Angeredete schüttelt den schönen blonden Kopf. „Nein, Fräulein Therese. Ich denke an meine lieben Eltern. Heute vor einem Jahr starb mein guter Vater," antwortet sie traurig. Dabei bemerkt sie, daß die beiden Mädchen an ihrer Seite nicht wie die andern einen Imbiß zu sich nehme». „Bitte nehmen Sie." Ihre Hand hat schnell zur Seite in die Tasche ihres an einem Nagel hängenden Mantels gegriffen und ihr Vesperbrod hervorgezogen, welches sie in zwei Hälften zerbricht und den beiden Mädchen karrcicht. „Aber so nehmen Sie doch," drängt sie, da die Mädchen bescheiden zögern, das Butterbrod an zunehmen. Ich mag heute nichts und müßte die Stulle mit nach Hause nehmen, wo sie mir doch nicht mehr munden würde." Die beiden Mädchen nehmen nunmehr dankend an und treten vom Fenster zurück, um die heute sicht lich wegen des Verlustes ihrer Eltern betrübte Dircc- trice in ihren Gedanken nicht zu stören. Man hat Fräulein Marbes, die neue Directrice, lieb gewonnen. Sie ist so ganz anders, als ihre Vor gängerin; seit dem Tage, da sic in das Geschäft ein trat, herrscht ein viel ruhiger, ein sozusagen „nobler Ton" .nicht allein in der Werkstatt, sondern auch im Laden, den sie oft am Tage betreten muß, denn den kaufenden Damen ist bereits ihr guter Geschmack in der Auswahl der Stoffe und ihr sicheres Urtheil be treffs des Sitzes der Mäntel bekannt. Der Chef, sonst ein barscher mürrischer Mann, begegnet seiner „Directrice" nur mit ausgesuchter Höflichkeit und das Ladenpersonal blickt zu der hohen schlanken Gestalt der „Neuen" mit einer gewissen Ehrfurcht auf. Warum? Diese Frage würde sich wohl schwerlich Jemand im Geschäft beantworten können. Fräulein Marbes ist gegen jeden gleich höflich und freundlich. Freundlich keit und Höflichkeit werden aber bekanntlich von jungen Leuten viel eher als Blödigkeit oder Charakter-Schwäche, denn als ein Schutz gegen Keckheit und Zudringlich keit angesehen, besonders wenn sich, wie hier, zu jenen beiden Eigenschaften noch die Schönheit zugesellt, welche für Personen in solcher untergeordneten, dienenden Stellung so leicht verhängnißvoll werde» kann, wenn neben derselben nicht ein hoher sittlicher Ernst und echte, bewußte Frauenwürde einhergehen. Weiß man auch im Geschäft über das Vorleben der „Neuen" so gut wie nichts, so ist man doch schon nach kurzer Zeit zu dem Schlüsse gekommen: Fräulein Marbes muß aus einer feinen Familie stammen nnd eine vorzüg liche Erziehung genossen haben. Und da sie sich bis lang tadellos hielt, das Muster von Ordnung und Pünktlichkeit war, in der Werkstatt kein unpassendes Wort duldete, im Laden höflich aber bestimmt, sowohl gegen den Prinzipal wie auch im Verkehr mit dem übrigen männlichen und weiblichen Personal, ihre Meinung äußerte oder Anordnungen traf, so konnte es nicht fehlen, daß sie bald im Geschäft eine domi- nircndc Stellung cinnahm, wie sie keine ihrer Vor gängerin jemals bekleidet hat. — Die Näherinnen haben ihr karges Vesperbrod schon nach einigen Minuten verzehrt, und da sie wissen, daß Fräulein MarbeS ein einfaches sinniges Volkslied viel lieber hört, als wenn sie sich in der freien Zeit von ihren kleinen Abenteuern außerhalb der Werkstatt unter halten, so stimmen sie in ein Volkslied ein, das die kleine lebhafte Berlinerin, welche die große Hängelampe über dem Arbeitstisch anzündet, wahrscheinlich nicht ohne Absicht heute leise vor sich hinzusummen beginnt: Ich weiß mir etwas Liebes Aus Gottes weiter Welt, DaS stets in meinem Herzen Den schönsten Platz behält. Kein Freund und auch kein Liebster Verdrängen es heraus — Es ist im Heimathlande Das theure Vaterhaus. „Das theure Vaterhaus!" Leise, aus schmcrzbc- wegter Brust dringen die Worte über die Lippen deö am Fenster stehenden jungen Mädchens und zwei heiße Thräncn fallen auf seine, wie zu einem Gebet gefal lenen Hände. „Das theure Vaterhaus," lispelt noch einmal der zuckende Mund, und die großen dunkel- blancn Augen schließen sich und der Geist eilt auf den Flügeln der Phantasie weit hinweg über das Häuser meer lind über Thäler und Hügel nach der kleinen fernen Stadt am Weserstrande zu den Gräbern ihrer Eltern, welche der unerbittliche Tod ihr innerhalb eines Jahres entriß. Ahnen die armen, bleichen Näher innen, was Johannas Seele in diesem Augenblicke bewegt? ES muß wohl so sein, denn sie stimmen anch die zweite Strophe des einfachen, aber trotzdem so überaus gemüthvollcn Liedes an: Des Lebens Lust und Freude Verhallen in der Brust, Doch bleibt mir stets im Herzen Das Schönste nur bewußt; Es drängen aus den Augen Die Thränen sich heraus, Denk' ich an meine Heimath, An's theure Vaterhaus. Johanna Marbes hat kein Vaterhaus mehr. Noch vor reichlich einem Jahr war sie glücklich, denn sie besaß noch Alles: Eltern — Vaterhaus — Heimath. Wohl trübte der Zustand ihres Vaters, der seit langen Jahren an einer im deutsch-französischen Kriege er haltenen Schußwunde — eine feindliche Kugel hatte ihn mitten durch die Brust getroffen — dahinsiechte, oft die frohen Stunden ihres Lebens; allein sie war dennoch glücklich in dem Besitz der theuren Eltern, die sie innig liebten und an denen ihre Seele hing mit allen Fasern eines kindlich reinen Herzens. Was anderen Mädchen vielleicht mit der Zeit zu einer Quelle von Verstimmung und Mißmuth geworden wäre, nämlich die Sorge für das Geschäft der Eltern, die Pflege des Vaters und die Führung des Haus halts — auch die Mutter kränkelte seit mehreren Jahren — das war für sie ein Sporn zu freudiger Schaffenslust geworden und hatte ihrem Wesen, ihrem Thnu und Handeln den Stempel Hohen Ernstes auf- gcdrllckt. Wie gern hatte sie für die Lieben geschafft nnd wie reich fühlte sie sich belohnt, wenn sie Abends nach Schluß des kleinen Geschäfts durch gute Nach richten den Vater crfrcncn konnte und er, der fast immer an das Krankenbett gefesselt war, ihr die Hand drückte und auf seinen leidenden Zügen ein Schimmer der Freude glänzte und sein matter Blick dankend zu ihr aufsah. Nachdem vor einigen Jahren auf ihre erste aufknospcnde Liebe zu einem schönen, aber leicht sinnigen Manne, welcher sie treulos verließ, der tödtende Mehlthau des Lebens gefallen war, hatte sie, trotz ihrer Jugend, keine Wünsche mehr für sich. Ihre Wünsche vereinigten sich nnr in dem Flehen zu Gott, daß er dem kranken Vater auf seinem Schmerzenslager lindernden Balsam in die wunde Brust träufeln und daß er die Mutter, welche sich aus Gram um den fchwcrleidendcn Vater verzehrte, stärken und wieder gesund werden lassen möge. Die Vorsehung hatte es anders bestimmt. Das Schicksal, das ihr eine fröhliche heitere Jugend raubte und dafür schwere Pflichten auf die jungen schwachen Schultern legte, raubte ihr zuletzt auch Alles, woran ihr Herz gehangen. Heute vor einem Jahr lag ihr Vater auf dem Todeslager und die wunde Brust schmückte das eiserne Kreuz, das ihm sein Regiments- Connnandeur iin Lazareth selbst mit vor Rührung er stickender Stimme auf den Dienstrock geheftet hatte, als der tapfere Reservemann im Wundfieber nach seiner Frau und seinem Kinde verlangte. Und drei Tage später trug man ihn hinaus aus dem kleinen schmucken Hause, in das er einst mit der glückstrahlenden Gattin eingczogen war und in welches er nach einigen Jahren als Schwerverwundetcr aus dem Felde wieder hcim- kchrtc. „Duioo vt cksooruin ost pro putriu moros" hatte der Geistliche an seinem Sarge gesagt. „Schön und ehrenvoll ists für's Vaterland zu sterben." Sie, die in Schmerz Aufgelöste hatte an diesem Tage zum ersten Male erst verstanden, warnm der Vater nie über sein Schicksal laut klagte, wenngleich sein Blick oft in Sorge auf ihr und der Mutter und dem kleinen Bruder ruhte. Wie er als Held gestritten, so trug er auch als Held die furchtbaren Schmerzen, und nur der Sorge um die Zukunft seiner Lieben hatte er mitunter lauten Ausdruck gegeben. Ja, was jener Spruch enthielt, davon war er ganz durchdrungen ge wesen. Er hatte das Höchste hingegeben für sein Vater land und nicht gehadert niit dem Schicksal, daß es die Existenz seiner ganzen Familie vernichtete. Und noch ehe der Frühling ins Land zog, forderte ein un erbittliches Verhängniß das zweite Opfer in der kleinen Faniilie, es raffte ihr auch die Mutter fort. Nun stand sic und der kaum zehn Jahre alte Bruder allein in der Welt. Elternlos, heimathlos — wer das Furcht bare, das in diesen Worten liegt, einst als Kind er fahren hat, der weiß auch den Schmerz zu ermessen, von dem eine Waise am Grabe der Eltern durchwühlt wird. Wohl verblieb den Kindern, so dachte Johanna, das kleine, wcinberanktc Haus mit dem Laden, und das Geschäft brachte gewiß soviel ei», daß Beide davon leben konnten, aber gar bald stellte es sich heraus, daß anch diese Hoffnung eine trügerische war. Denn bei dem langen Krankenlager des Vaters und der damit verbundenen Pflege hatten schon längst Hypotheken ausgenommen werden müssen, deren Besitzer nach dem Tode des Vaters nichts Eiligeres zu thun hatten, als dieselben zu kündigen. Und einige Monate später, da wußten die beiden Waisen, daß ihnen nach Abzug aller Schulden nur einige hundert Mark aus dem 'Nachlaß der Eltern verblieben waren. Das kleine Haus und der freundliche Garten, in dem eS lag, ging an einen Kaufmann über, der das Confections-Geschäft ihres VatcS weiter fortsetztc. So hatten sie denn Alles verloren — Eltern, Vater haus und Heimath, und als Johanna zum letzten Male mit dem schluchzenden Bruder an der Hand am Grabe der Eltern kniete, um Abschied von den lieben Tobten und der Heimath zu nehmen, da betete sic mit In brunst zu Gott: „Mach' End', o Herr, mach Ende, von aller unserer Noth." Und Gott hatte sie erhört und ihr den Weg ge zeigt, auf dem sie ihre Kunst und Geschicklichkeit ver- werthen konnte. Während sich des Bruders ein Be kannter des Vaters in Hannover annahm, ging sie nach Berlin nnd erlernte dort die Zuschneidekunst, weil diese nach ihrer Erfahrung im väterlichen Geschäft noch am Besten bezahlt wurde. Der Beruf entsprach durchaus nicht ihrer Neigung, aber für sich wollte sie ja auch nicht schaffen, nein, nur für den Bruder, für dessen Fortkommen ihr kein Opfer zu hoch dünkte. Dank der im väterlichen Geschäft bereits erworbenen Waarcnkenntnisse und ihrer Geschicklichkeit konnte sie schon nach einigen Monaten von ihrem Lehrer warm empfohlen, eine Stelle bei der Firma Nordheim L Sohn übernehmen, und schon nach kurzer Zeit war sie nicht allein die Seele dieses Geschäfts, sondern ihr Salair ward auch so hoch bemessen, daß sie, allerdings nur bei größter Sparsamkeit, neben ihrem Unterhalt auch denjenigen des Bruders bestreiten konnte. War Johanna einerseits überglücklich, so verhehlte sie sich auf der anderen Seite nicht, daß dieser Beruf ihre Kräfte mit der Zeit aufreiben, daß sie, die an Sonnen schein und frische Landluft gewöhnt war, in der Stick luft der Großstadt und der dumpfen Schneiderwerk statt sich nie heimisch fühlen würde. Wie oft hatte sie sich hinausgesehnt in Gottes herrliche Natur, wie oft hatte sie, als im Herbst noch die Thurm-Schwalben kreischend über die schmutzigen Dächer durch die Luft segelten, gewünscht, mit ihnen fliegen zu können weit fort in die Heimath, wo der Fluß wie ein silbernes Band durch anmuthige Wiesen und an bewaldeten Hügel» vorbei dahinfließt. Auch heute, wo in diesem Augenblicke dort unten auf dem Hofe ein Händler kleine Tanncnbäumchen für den Christabend feil bietet, erfaßt sie das Gefühl der Sehnsucht nach der Heimath mit unwiderstehlicher Gewalt, und eine innere Stimme flüstert ihr zu: „Wirf dieses Leben ab, mache dich frei, du bist noch jung — noch ist es Zeit, in ein, zwei Jahren bist du das, was jene bleichen Mädchenschatten sind: eine verblühte Blume, ein abgestumpftes Wesen, das nur für den Augenblick lebt, eine Sklavin, welche die Fesseln nicht mehr fühlt!" Noch nie vorher ist ihr das Leben, das sic in diesem Hause führt, und die Freiheit, die sic im Elternhause genoß, in grellerem Contrast erschienen, als heute, wo die Nähe des Christfestes sie ganz besonders daran erinnert, was sic verloren. Wie hatte sie sich sonst auf das Weihnachtsfest gefreut! Wie glücklich war sie, wenn ani Christabend die Kerzen am Tanncnbaum leuchteten und sie die lieben Ihrigen mit dem, was ihre fleißigen Hände geschaffen, erfreuen konnte. Auch im vorigen Jahre hatte sie Alles für das herrliche Fest der Christenheit vorbereitet, aber statt der Christbaum kerzen brannten am Tage vor Weihnachten die Todten- kerzen auf dem Sarge des Vaters. O, das war ein trauriges Christfest gewesen, und in der Stunde, in der sich sonst die Augen mit innigem Dank zu Gott erhoben und ihn gepriesen hatten für die Gnade, daß er die kleine Faniilie wiederum ein Jahr beschützte und das liebliche Fest zusammen feiern ließ, da flössen an demselben Tage im vorigen Jahre ungezahlte Thränen um den Gatten und Vater. (Fortsetzung folgt.) — nur ächt, wenn direkt ab meiner Fabrik bezogen — schwarz, weiß und farbig, von 60 Pf. bis Md 18.66 p. Meter glatt, gestreift, karrirt, gemustert, Damaste >c. (ca. 240 vcrsch. Qual, und 2000 versch. Farben, Dessins re.), xorto unä »tevorkrsi ins staus. Muster umgehend. 8oil>sn-ssrtbrfft 8. ttvnnsdsi-g (k. st. So».), 2üi-ivk. Würdig an seine Vorgänger sich anreihend erschien soeben der XVIII. Band von L. MeggendorferS Humorist. Blättern und bietet in bekannter Gediegenheit sowohl text lich wie illustrativ eine humoristische, für jeden Familienkreis erheiternde Lektüre. — Wir verfolgen das Unternehmen, welches in seiner Farbentechnik sich immer mehr vervollkommnet seit einer Reihe von Jahren und konstatiren gerne, daß entgegen der sonst bei vielen Witzblättern beliebten Wiederholung schon dagcwesencr Stoffe, in MeggendorferS Blättern nur Origi- nalartikel und Originalzeichnungen zu finden sind und jedem Leser unseres Blattes die Anschaffung dieser sowohl in Nummern- wie Hest-Form erscheinenden humoristischen Zeit schrift bestens empsohlen werden kann. Probenumniern sind durch die Geschäftsstelle der Meggendorfer Blätter München, Corneliu« st r. IO auf Verlangen bei beabsichtigtem Abonne ment gratis erhältlich. Druck und Berlag von E. Hannebohn in Eibenstock.